Eine Protestkundgebung gegen die Rodungen im Amazonas-Gebiet.
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Ethnografische Museen sind sich heute sehr bewusst, dass sie das kulturelle Erbe von anderen betreuen. Das bestätigt auch die Südamerika-Kuratorin Claudia Augustat vom Weltmuseum Wien. Dieses Bewusstsein umfasse auch das Wahrnehmen von Verantwortung für die eigentlichen Erben der gesammelten Objekte aus vielen Teilen der kolonialisierten Welt.

"Die Aufgaben eines Museums beschränken sich inzwischen nicht mehr nur auf Sammeln, Bewahren, Erforschen und Vermitteln", so die Ethnologin. "Es geht auch um das Teilen von kulturellem Erbe, das Entwickeln neuer Zugänge und nicht zuletzt um das Heilen kolonialer Traumata."

Das Forschungsprojekt Taking Care beschäftigt sich genau damit: Die EU stellt dafür zwei Millionen Euro zur Verfügung. Insgesamt 14 europäische Museen sind daran beteiligt, das Weltmuseum Wien wurde mit der Projektleitung betraut.

Auslöser für das kürzlich gestartete Großprojekt sind die katastrophalen globalen Umweltveränderungen, die vor allem ohnehin schon geschwächte Regionen und Völker am stärksten treffen. Dazu zählen auch indigene und ehemals kolonialisierte Gruppen.

"Durch unsere langjährige Zusammenarbeit mit brasilianischen Indigenen wie den Sateré-Mawé oder den Warí in Brasilien kennen wir die bedrohlichen Entwicklungen in deren Heimat", so Augustat. "Taking Care gibt uns die Möglichkeit, neue Strategien im Umgang mit diesen Problemen zu entwickeln."

Aber was können Museen schon gegen Politiker, die Vernichtung des Regenwaldes und die Vertreibung seiner indigenen Bewohner ausrichten? Vielleicht etwas auf der Ebene des Bewusstseins? "Wir können zum Beispiel zeigen, dass unsere Art, mit der Umwelt umzugehen, nicht alternativlos ist", erklärt die Südamerika-Expertin. So könne man in der Auseinandersetzung mit Vertretern indigener Gemeinschaften deren Sicht auf die Natur bewusstmachen und damit für uns neues ökologisches Wissen zugänglich machen.

Zu diesem Zweck sollen im Rahmen des Projekts nicht nur wie bisher Künstler aus den Herkunftsgemeinschaften nach Europa eingeladen werden, sondern auch Umweltaktivisten. "Es gibt ja sehr viele junge indigene Menschen, die sich aktiv für die Umwelt einsetzen", weiß Claudia Augustat. "Über die Museen kann man ihnen in Europa Gehör verschaffen."

Die Gestaltungsmacht

Ein zentrales Thema in diesem großen europäischen Projekt ist die Auseinandersetzung mit der ökologischen Gestaltungsmacht des Menschen, die im Anthropozän ihren Höhepunkt erreicht. Sie ist wie auch ihre Folgen sehr ungleich verteilt. "Wir wollen zeigen, dass auch indigene Völker ihre Umwelt gestaltet haben", so die Ethnologin. "Der Amazonas etwa ist eine über Jahrtausende geprägte Kulturlandschaft."

Die Folgen dieser menschlichen Eingriffe zählen zu den oft übersehenen positiven Aspekten des Anthropozän. Ihnen lag nämlich nicht das Streben nach Gewinn zugrunde, sondern das Bemühen um ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur. "In der Zusammenarbeit mit Indigenen lernen wir Sichtweisen und ökologisches Wissen kennen, die wir für eine nachhaltigere Zukunft nutzen können."

Von oben betrachtet: Rodungen ziehen eine breite Furche durch den Regenwald.
Foto: Imago / imagebroker

Aber nicht nur die Europäer haben dieses Wissen aus den Augen verloren, auch bei indigenen Gruppen geht es immer mehr verloren. "Viele holen sich ihre Lebensmittel mittlerweile in den Supermärkten der Städte und werden allmählich von Produzenten zu Konsumenten", weiß Augustat.

Die gemeinsame Erforschung und Wiederbelebung traditionellen Wissens nutzt also beiden Seiten – den einstigen Kolonialherren ebenso wie den kolonialisierten Völkern.

Keine Rückgabe gefordert

Wer ernsthaft Verantwortung übernehmen will, muss sich natürlich auch die Frage der Restitution stellen. Denn mitunter ist die Rückerstattung der im Zuge der Kolonialisierung gesammelten oder geraubten Objekte erforderlich. "In unserer Zusammenarbeit mit den Sateré-Mawé haben wir dieses Thema bereits eingehend behandelt", sagt die Ethnologin.

"Diese Volksgruppe möchte im Gegensatz zu einigen anderen Indigenen ihr kulturelles Erbe allerdings nicht zurückhaben, da man es bei uns in guten Händen sieht." Man wolle die eigene Kultur und Geschichte auch in Europa sichtbar machen. Durch die Auseinandersetzung der Museen mit Indigenen-Wissen komme dieses, so die Überlegung, über Europa wieder verstärkt in die eigenen Gemeinschaften zurück.

Die Folgen der Brandrodung.
Foto: Imago / blickwinkel

Die Kreativität zu fördern und Menschen wieder zu Produzenten zu machen ist ein zentrales Anliegen von Taking Care. Wie das in Museen gelingen kann, die bisher zum Bestaunen der Kreativität anderer animieren?

"Seit etlichen Jahren bieten Museen neben Ausstellungen auch Workshops, in denen Interessierte auch alte Kunsthandwerkstechniken etc. lernen können." Im Zuge dieses Projekts sollen indigene Künstler als "Residencies" nach Wien eingeladen werden und ihr Wissen an Besucher weitergeben.

Historische Schuld

Basis solcher Kooperationen ist ein postkoloniales Bewusstsein, das in den letzten 15 Jahren in den ethnografischen Museen viele Veränderungen und thematische Erweiterungen bewirkt hat.

"Wir arbeiten seit zehn Jahren an Fragen, die sich gerade für Museen wie das unsereaus der kolonialen Vergangenheit Europas ergeben", so Augustat. In dieser Vergangenheit wurde viel an historischer Schuld angehäuft.

Aus der Wahrnehmung derselben ergibt sich eine moralische Verantwortung, der sich auch das Weltmuseum Wien verpflichtet fühlt. Konkret bedeutet das nicht nur selbstkritisches Nachdenken über die Vergangenheit, sondern auch die Sorge um die massiv bedrohte Zukunft indigener Gruppen, die zu Maßnahmen führt.

Die Gruppen zu unterstützen ist die Selbstverpflichtung aller 14 europäischen Museen von Stockholm bis Rom, die sich im Taking-Care-Projekt zusammengeschlossen haben. (Doris Griesser, 6.12.2019)