Jacques Aumont schwärmt von dem mehr als 14-stündigen Epos "La Flor": Man müsse viermal ins Kino gehen und auf jede noch so kleine Idee achten.

Foto: Jacques Aumont

Bei den Wissenschaftspreisen haben die "études cinématographiques" oder "film studies" selten etwas zu bestellen. Das Fach ist zu jung und im Katalog der Geisteswissenschaften zu schwach abgegrenzt, um profilierten Vertretern größere Aufmerksamkeit zu verschaffen.

In diesem Jahr aber wurde der Filmtheoretiker Jacques Aumont mit einem der hochdotierten Balzan-Preise (jeweils 680.000 Euro) ausgezeichnet – eine kleine Hommage nicht zuletzt an den Preisstifter, den italienischen Journalisten Eugenio Balzan, der auch Filmkritiken geschrieben hat.

STANDARD: Welchen Film haben Sie zuletzt im Kino gesehen?

Jacques Aumont: Ich glaube, es war The Joker.

STANDARD: Können wir "The Joker" als Beispiel nehmen? Was kann einen daran filmwissenschaftlich interessieren?

Aumont: In aller Regel wird bei diesem Film über die Hauptfigur gesprochen. Ein weißer Mann, ein pathologisches Subjekt. Ich habe hingegen vor allem auf das geachtet, was nebenbei zu sehen war. Das Unbeachtete in den Bildern. Der visuelle Eindruck des Films. Aber wenn Sie nach einem Beispiel für einen Film suchen, der filmwissenschaftlich ergiebig ist, würde ich lieber auf einen anderen Kinobesuch eingehen. Am meisten beschäftigt hat mich in diesem Jahr der argentinische Film La Flor ...

STANDARD: Ein 14-stündiges Projekt, das sich kaum nacherzählen lässt.

Aumont: Ich war sehr beeindruckt von der Intelligenz dieses Films. Der Regisseur Mariano Llinás spielt mit Genres, mit, ja, Gender, er demonstriert eine postmoderne Verwendung von alten Rezepten der Fiktion. Thriller, Science-Fiction, sogar der Filmklassiker Eine Landpartie von Jean Renoir werden neu gefasst. La Flor kennt keine Grenzen, keine Beschränkungen. Man muss viermal ins Kino gehen, vier sehr lange Vorstellungen, und dabei auf jede kleinste Idee achten. Man könnte La Flor als ein erzählerisches Labor sehen. La Flor lässt die Fiktion ins Freie laufen. Die Geschichte hat kein Ende, man weiß nicht, worauf es hinausläuft.

STANDARD: Zeigt sich da auch etwas von der aktuellen Situation der Filmwissenschaften? Sie haben in den 1960er- und 1970er-Jahren gründlich das Kino auseinandergenommen. Spielen Sie nun eher damit?

Aumont: Nach 1980 meinten manche, wir wären in einem posttheoretischen Zeitalter angekommen. Die großen Theorieblöcke – Semiologie, Semioanalyse, Psychoanalyse, Theorie des Apparats – waren erstarrt. Aber jetzt haben wir massive ideologische Blöcke: Gender-Theorie, postkoloniale Theorien. Dabei verlieren wir etwas sehr Simples, nämlich Filme ohne Vorurteil zu sehen. Ich sehe etwas, und erst danach bewerte ich es. Heute ist das meist umgekehrt. Aber geht es dabei nicht eher darum, Ideologie zu entlarven: nämlich, zugespitzt, die Ideologie vom heterosexuellen weißen Helden, der die Welt rettet und die schönste Frau bekommt? Ich spreche niemandem die Rechte auf Gender-Studies oder die Untersuchung der Repräsentation von Minderheiten ab, da gibt es hoffentlich interessante Resultate. Wir sollten eher versuchen, die Position von Frauen und Minderheiten in der Gesellschaft zu verändern.

STANDARD: Auch in den Bildern?

Aumont: Ja, klar, aber was bedeutet das? Ein Bild kann man nicht beherrschen. Man kann nicht etwas in die Bilder hineingeben, zum Beispiel stärkere Frauen. Es gibt immer einen großen Teil in den Bildern, der wie von selbst funktioniert. Ein Bild hat ein Eigenleben, über das sich nicht verfügen lässt. Ideologische Lektüren sind Interpretationen.

STANDARD: Sie interpretieren nicht?

Aumont: Wir interpretieren ständig. Ich interpretiere Ihre Mimik, ich interpretiere meine Situation in diesem Raum. Wir haben nur Zugang zur Realität, aber niemals zum Realen.

STANDARD: Was wäre ein Filmbild, das Sie interessiert?

Aumont: Nehmen wir etwas aus Herr der Ringe. Mich interessieren Bildphänomene. Regisseur Peter Jackson ist da sehr geschickt. Man sieht da zum Beispiel etwas, das aussieht wie ein roter Ring, eine Sekunde, eineinhalb, zu kurz, um das Bild wirklich zu erfassen, dann sieht man zwei Augen unter einer Kapuze. Es ist ein abstraktes Bild, kann aber mit Sauron verbunden werden, also mit der negativen Kraft in diesem Erzähluniversum. Was aus dieser Szene auf jeden Fall hervorgeht, ist, dass Peter Jackson sich im frühen Kino und im Horrorgenre gut auskennt.

STANDARD: Wo könnte man neben einem Digitalvisionär wie Peter Jackson einen Einzelgänger wie Jean-Luc Godard einordnen? Sie haben über ihn publiziert.

Aumont: Godard ist ein Freak. Es gibt nichts Vergleichbares zu ihm. Die Position, die er einnehmen möchte, ist paradox: Ich weiß alles, ich habe alles gesehen, aber ich weiß dadurch, dass ich nichts weiß. Er ist ein alter weiser Mann mit einer Idee von Poesie. In seinem jüngsten Film Bildbuch ist man komplett verloren.

STANDARD: Woran arbeiten Sie gerade?

Aumont: Ich schreibe unentwegt. Gerade bereite ich ein Buch über das Unsichtbare vor. Also über das, was niemand sehen kann: das sehr Kleine, das sehr Große, den Kosmos, die Seele, die Gefühle. Es gibt sozial Unsichtbares, es gibt auch verbotene Bilder oder das technisch Unsichtbare.

STANDARD: Dazu müsste man die Kamera bewegen.

Aumont: Genau. Und dann gäbe es wieder eine Wand, hinter die sie nicht schauen kann.(Bert Rebhandl, 7.12.2019)