Die Universität Wien in der Zwischenkriegszeit war eine tief gespaltene Institution. Einerseits wirkten an Österreichs ältester und größter Hochschule in den 1920er-Jahren noch einige der brillantesten Köpfe, die das Land im 20. Jahrhundert hervorbrachte. Andererseits bemühten sich rechte und antisemitische Professoren mit zunehmendem Erfolg, die Macht an den Fakultäten an sich zu reißen und den jüdischen und linken Kollegen das Leben möglichst schwer zu machen.

Exemplarisch waren die Zustände an der juridischen Fakultät, an der etliche rechte Antidemokraten wie etwa Othmar Spann wirkten, aber auch Koryphäen wie Hans Kelsen, der "Vater" der österreichischen Verfassung, der Wien allerdings 1930 verließ. Solche politischen Gegensätze gab es auch bei den damaligen Jusstudenten, wie der renommierte britische Rechtswissenschafter Philippe Sands am Freitag bei einem kleinen Symposion in Wien an zwei hierzulande nicht ganz so prominenten Beispielen veranschaulichen wird: Hersch Lauterpacht und Otto Wächter.

Philippe Sands, Professor für Internationales Recht, Menschenrechtsanwalt und Schriftsteller, kommt dieser Tage in allen drei "Funktionen" nach Wien.
Foto: Antonio Zazueta Olmos

Ein prägender Völkerrechtler

Lauterpacht, der zentrale Beiträge zum Völkerstrafrecht und zum Konzept der internationalen Menschenrechte lieferte, stammte eigentlich aus Galizien, studierte zunächst in Lemberg (dem heutigen Lwiw in der Westukraine), ging nach dem Ersten Weltkrieg aber nach Wien, um seine Studien unter anderem bei Hans Kelsen fortzusetzen. Nachdem er sowohl in Jus als auch in Politikwissenschaft promoviert hatte, übersiedelte er in den 1920er-Jahren nach England, wo unter anderem an der Uni Cambridge lehrte.

Hersch Lauterpacht, einer der wichtigsten Völkerrechtler des 20. Jahrhunderts, ist einer der Helden in "Rückkehr nach Lemberg" von Philippe Sands.
Foto: University of Cambridge

Über Lauterpachts Leben und Werk hat Sands, der neben seiner Professur am University College in London außerdem Menschenrechtsanwalt und Schriftsteller ist, jahrelang quer durch Europa recherchiert. Er verband diese Spurensuche mit der nach Raphael Lemkin, der ebenfalls in Lemberg studierte und den Begriff Genozid prägte. Vor allem aber spürte Sands seiner eigenen verdrängten Familiengeschichte nach, denn auch sein Großvater stammte aus Lemberg, übersiedelte so wie Lauterpacht nach Wien und überlebte als Einziger seiner Familie den Holocaust.

Der "Schlächter von Polen"

Schließlich führten die Recherchen Sands aber auch auf die Spur von Tätern wie Hans Frank, der der höchste Jurist im nationalsozialistischen Deutschland war und als Generalgouverneur die Ermordung hunderttausender Polen mitverantwortete. Beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 schrieb Lauterpacht an den Plädoyers, während Frank auf der Anklagebank saß und zum Tode verurteilt wurde.

Philippe Sands, "Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit". € 14,40 / 591 Seiten. Fischer TB, Frankfurt/Main 2019

Diese Nachforschungen über persönliche Schicksale, über Recht und Unrecht hat Sands nicht nur in seinem preisgekrönten Bestseller "Rückkehr nach Lemberg" (im englischen Original: "East West Street") verarbeitet, der kürzlich als Taschenbuch auf Deutsch erschien. Er hat das Material auch in Form einer konzertanten Lesung verdichtet, denn sowohl Frank wie auch Lauterpacht und Lemkin waren große Musikliebhaber. Am Samstag wird Sands gemeinsam mit der deutschen Schauspielerin Katja Riemann "A Song of Good and Evil" erstmals in Wien zur Aufführung bringen.

Arts Projects Australia

Tags zuvor geht es beim kleinen Symposium im Juridicum neben Lauterpacht noch um Otto Wächter, der kurz nach Lauterpacht 1925 an der Uni Wien in Jus promovierte und danach eine steile NS- und SS-Karriere hinlegte: Wächter war am Juli-Putsch 1934 beteiligt, war nach dem "Anschluss" Österreich kurz Staatskommissar, stand mit Hans Frank in engem Kontakt und wurde 1942 Gouverneur des Distrikts Galizien.

Otto Wächter (rechts) und Joseph Goebbels (links) am 1. September 1940 in Polen anlässlich einer Feier zum ersten Jahrestag des Kriegsbeginns.
Foto: gemeinfrei/wikimedia

Anders als Hans Frank konnte er sich nach Kriegsende der Justiz entziehen: Er fand bis zu seinem Tod 1949 Unterschlupf bei Alois Hudal, der als österreichischer Bischof in Rom Nazis bei der Flucht nach Südamerika half.

Hudals "Rattenlinie" ist übrigens Philippe Sands nächstes Buch gewidmet: eine weitere Spurensuche nach dem "Bösen" im 20. Jahrhundert, ebenfalls unter österreichischer Beteiligung. (tasch, 4.12.2019)

Trailer des Films "What Our Fathers Did: A Nazi Legacy"(2015), für den sich Philippe Sands mit den Söhnen von Hans Frank und Otto Wächter auf Spurensuche nach deren Vätern begab.
Vanity Fair