Wenn die Dekonstruktion außer Kontrolle gerät, oder: Hilfe, die Postmoderne schmilzt unter unseren Spitzenschuhen weg! Richard Siegals Ensemble bei der Arbeit.

Foto: Thomas Schermer

Immer wieder wird es Tänzern und Choreografen zu eng in den USA. Sie packen zusammen und übersiedeln nach Europa. Dazu hat sich etwa Meg Stuart entschlossen, deren jüngstes Stück gerade in Wien zu sehen war, vor ihr der bis heute wichtigste Ballettpostmoderne, William Forsythe, und nach ihr Richard Siegal. Am Freitag zeigt Siegal mit seiner exzellenten Gruppe Ballet of Difference im Festspielhaus St. Pölten ein Stück, das erst diesen Herbst in Köln uraufgeführt worden ist: New Ocean.

Wie Forsythe gehörte auch Siegal in jungen Jahren zu den herausragenden Tänzern der New Yorker Szene. Im Gespräch mit dem STANDARD erinnert er sich daran, was ihn mit Österreich verbindet: 1997 zeigte er im Wiener Wuk erstmals ein eigenes Stück in Europa – das Solo Snack beim seinerzeitigen Festival Tanzsprache. Da befand er sich gerade auf dem Sprung von New York zu William Forsythes legendärem Ballet Frankfurt. In den USA müsse sich der Tanz einem "marktgetriebenen" System anpassen, bedauert der 51-jährige, aus North Carolina stammende Künstler nach der Kölner Premiere von New Ocean, und das erzeuge ständige "Angst vor künstlerischem Risiko".

Postmodernes Denken

Auch Europa ist kein Paradies. Das Ballet Frankfurt wurde in einem für die Kulturpolitik der Metropole am Main beispiellos peinlichen Willkürakt 2004 aufgelöst. Zwei Jahre später gründete Siegal mit The Bakery ein interdisziplinäres Tanzprojekt und 2016 sein Ballet of Difference. Seine Verbindungen zur US-amerikanischen Tanzkultur hat er nie aufgegeben, vor allem der Modern-Dance-Star Merce Cunningham zieht ihn immer noch in seinen Bann.

"Meine damalige Freundin hat mich auf ihn aufmerksam gemacht", erzählt er. In der Folge sah der 20-Jährige sein erstes Cunningham-Werk und "war völlig verwirrt". Dieser Impakt sollte sein weiteres künstlerisches Leben bestimmen. New Ocean bezieht sich lose auf Cunninghams 1994 in Brüssel uraufgeführtes Stück Ocean und ist auch als Hommage an das 2009 verstorbene Genie zu verstehen.

Cunningham mit seiner modernen Technik und seinem postmodernen Denken war eine Symbolfigur eines Umbruchs, der sich ab Ende der 1950er-Jahre ereignete. An der Konzeption von Ocean arbeitete auch der Jahrhundertkomponist John Cage mit, bevor er 1992 starb. Da hatte sich die rigide Moderne längst "dekonstruiert", so wie sich heute die Vorherrschaft der Postmoderne auflöst.

In New Ocean tanzen vier Frauen, drei Männer und ein Transgender präzise Muster in einen wie von einer unbestimmten Erwartung gesättigten Raum. Auf den Boden ist ein großer Kreis gesetzt, eine Art Becken im Zentrum der Bühne. Dort wird der Anfang von etwas Fundamentalem angedeutet: Sobald sich in einer Videoprojektion der Boden zu zersetzen beginnt, weiß das Publikum, dass etwas Unumkehrbares bevorsteht.

Außer Kontrolle

Hier gerät die Dekonstruktion außer Kontrolle. Aus der Zerlegung ist Zerfall geworden. Ganz bewusst bezieht sich Richard Siegal auf Messdaten, die das Abschmelzen der Eismassen der Arktis belegen. Unter dieser Vorgabe machen die Tänzer, allesamt herausragend in ihrer Technik, klar, warum sie Spitzenschuhe tragen: Weil es um den Konflikt des Menschen mit dem vergeblichen Anspruch geht, präzise sein zu wollen. Dabei repräsentiert jeder Tänzer einen bestimmten Typus: Ein eitler Narzisst trumpft genauso auf wie die hyperartikulierte Bewegungsintellektuelle, und eine grotesk beherrschte Zynikerin bringt sich ebenso ins Spiel wie die verspielte Indifferente oder ein sensibler Macho.

Sie alle tanzen in auf Science-Fiction und Gendershift getrimmten, etwas verkitschten Kostümen von Flora Miranda, und Matthias Singers Licht und Videoprojektionen, die den Zersetzungsprozess – das Schmelzen des Eises – verdeutlichen, machen den Boden unsicher. Die Körper selbst werden der Wechselwirkung zwischen enormer Anstrengung und schlagartigen Verweigerungen ausgesetzt. All das macht New Ocean zu einem faszinierenden Erlebnis. (Helmut Ploebst, 4.12.2019)