Im Gastkommentar widmet sich der Religionspolitologe und Türkei-Experte Hüseyin Çiçek der Rolle der Türkei in der Nato – unter dem Eindruck der jüngsten Entwicklungen in Syrien.

Einmal mehr führt Ankara, das langjährige Mitglied der Nato, die Allianz an der Nase herum und wird voraussichtlich seine Interessen durchsetzen können. Vor allem, weil die Nato der Türkei nur zögerlich Grenzen aufgezeigt hat. Abgesehen davon hat Ankara schon früher durch eine krude antisemitische Politik oder gegenwärtig durch Waffenkäufe aus Moskau und den expliziten Einsatz von Jihadisten zur Bekämpfung der YPG in Nordsyrien seinen politischen Handlungsspielraum selbst vergrößert und den Stellenwert des Bündnisses de facto damit abgewertet. Zu fragen bleibt, ob das Treffen in London eine Wende herbeiführen wird.

Einmal mehr spielen die Entwicklungen in Syrien eine zentrale Rolle in der Innen- und Außenpolitik des türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan. Dass das Assad-Regime in Damaskus nicht ersetzt wird, ist schon länger von Ankara akzeptiert worden. Umso härter wird nun an der türkischen Grenze zu Syrien um jeden Zentimeter und den Rückzug bewaffneter kurdischer Einheiten der YPG gekämpft.

Erdoğans Machtpolitik

In dieser Auseinandersetzung werden jihadistische Milizen eingesetzt. Auf Kritik von Nato-Partnern oder anderen Staaten reagiert die Türkei mit Gegenkritik und führt ihre Kooperation fort. Waffenkäufe aus Russland sollen explizit aufzeigen, dass die Türkei nicht nur den Westen als Bündnispartner zur Seite haben kann. Zusätzlich bestärkt wird Ankara durch die nicht in Kraft tretenden US-Sanktionen, selbst wenn es russische Luftabwehrraketen in Betrieb nimmt.

Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan am Nato-Gipfel in London.
Foto: EPA/WILL OLIVER

Das Treffen in London bietet Erdoğan vor allem die Option, seine Machtpolitik medial gut in Szene zu setzen. Dabei spielt das Ergebnis eine eher zweitrangige Rolle. Der mit Abstand wichtigste Partner der Türkei, die USA, ist bisher nicht bereit, mit harten Sanktionen durchzugreifen. Bereits vor einigen Wochen haben Frankreich, Deutschland und Norwegen beschlossen, alle Waffenlieferungen in die Türkei einzustellen. Führen die Gespräche in London zu keinen konkreten Zusagen an die Türkei – was nicht zu erwarten ist –, so kann Erdoğan seine Distanzierungspolitik als eine notwendige Reaktion auf das Vorgehen der Nato-Mitglieder abwälzen. Darüber hinaus kann Ankara an seinem Vorgehen in Syrien weiter festhalten und obendrein europäischen Staaten vorwerfen, dass sie bewusst zur Bekämpfung des Terrorismus – nämlich von der YPG – keinen Beitrag leisten wollen. Anders gesagt, die Sicherheitsinteressen der Türkei hätten keine Priorität unter den Verbündeten.

Tiefe Gräben

Erdoğan versucht kontinuierlich den politischen Druck auf die Nato-Partner zu erhöhen. Auch wenn die Bündnispartner die Sicherheitsbedenken Ankaras voll unterstützen würden, würde das an der Haltung der AKP nichts ändern. Erdoğan weiß, dass die gemeinsame Etablierung einer "Sicherheitszone" mit der Nato ihm ein wichtiges politisches Druckmittel aus der Hand nehmen würde. Auch wäre er gezwungen, alle militärischen Handlungen mit mehreren Akteuren zu koordinieren. Hinzu kommt, dass die YPG, abgesehen von der Türkei, in der Nato durchaus Sympathien und Zustimmung genießt. Es ist zu erwarten, dass das Treffen in London die Gräben zwischen Ankara und der Nato noch weiter vertiefen wird.(Hüseyin Çiçek, 5.12.2019)