Die Steuererklärung, die auf einen Bierdeckel passt, bleibt ein Wunschtraum.

Illustration: Fatih Aydogdu

Ein Bonmot besagt, dass 60 Prozent der weltweiten Steuerrechtsliteratur auf Deutsch verfasst sind. Selbstständige, Unternehmen und auch Steuerberater beklagen nicht nur, dass das Steuerrecht kompliziert ist, sondern auch, dass es sich ständig ändert. Allein das Einkommensteuergesetz 1988 wurde bereits 166-mal novelliert.

Das entspricht im Durchschnitt fünf Änderungen pro Jahr. Dazu kommen 2000 Seiten Einkommensteuerrichtlinien (ein "Auslegungsbehelf"). Über das Körperschaftsteuerrecht und das Mehrwertsteuerrecht ist damit noch gar nichts gesagt.

Immer wieder wird daher eine radikale Vereinfachung gefordert. Die Steuererklärung solle auf einem Bierdeckel Platz haben. Allerdings gibt es Gründe, warum das Steuerrecht kompliziert ist. Ein sehr einfaches Steuerrecht ist in der Regel nämlich weder gerecht, noch schützt es vor Behördenwillkür.

  • Das Steuerrecht will auf individuelle Umstände Rücksicht nehmen

Viele Ausnahmen und Sonderbestimmungen resultieren daraus, dass jeder Mensch, jeder Beruf individuell ist. Alle "über einen Kamm" zu scheren wäre nicht besonders gerecht. Ein Beispiel: Ein Schriftsteller arbeitet fünf Jahre lang an einem Buch und verdient nichts. Im fünften Jahr erscheint das Buch, und er verdient 100.000 Euro. Ein Angestellter hat in diesem Zeitraum jedes Jahr 20.000 Euro verdient. Ohne eine Ausnahmeregelung würde der Schriftsteller etwa 30 Prozent Steuern bezahlen, der Angestellte etwa zehn Prozent. Es gibt daher eine Bestimmung, nach der Einkünfte von Künstlern auf Antrag gleichmäßig auf drei Jahre zu verteilen sind.

Das Lohnsteuerrecht ist voll von solchen Regelungen: für Grenzgänger, Pendler, Nachtarbeiter, Schwerarbeiter, Auslandstätigkeiten, Kinderbetreuung, Schmutzzulagen, Überstunden, Trinkgelder, Mitarbeiterrabatte, um nur einige wenige zu nennen.

  • Das Steuerrecht will Anreize setzen

Wenn man sonst keine Lösung für ein vermeintliches Problem hat, dann besteht sie oftmals darin, dass man etwas höher oder niedriger besteuert. Auch dafür lässt sich eine Fülle von aktuellen oder vergangenen Beispielen finden: Mitarbeiterbeteiligungen, Investitionsfreibetrag, Handwerkerbonus, Kinderbetreuungskosten, Forschungsfreibetrag, Firmenwertabschreibung, Zukunftsvorsorge, um wieder nur einige wenige Beispiele zu nennen.

  • Das Steuerrecht will Umgehungen ausschließen und das Einkommen möglichst lückenlos erfassen

Mit der Schaffung steuerlicher Begünstigungen und Anreize schafft der Gesetzgeber auch den Anreiz, diese zu nutzen. Sobald jemand eine steuerliche Begünstigung genutzt hat, von der die Finanzverwaltung meinte, dass sie ihm nicht zusteht, wurde eine "Lücke" geschlossen und die Ausnahme von der Ausnahme geschaffen. Oftmals blieb von der Begünstigung dann nichts mehr übrig, speziell wenn sie von einer Vorgängerregierung geschaffen wurde.

Eine Vereinfachung würde dieses Problem nicht lösen: Einfache Bestimmungen können auch einfach umgangen werden. Gerade das internationale Steuerrecht, das sehr kompliziert ist, zeigt, warum ein kompliziertes Steuerrecht entstanden ist: Bei einem einfachen Steuerrecht könnten beispielsweise Gewinne leichter in das Ausland verlagert werden.

  • Der Gesetzgeber muss Vorgaben der Europäischen Union umsetzen

Österreich hat seit 1994 eine Regelung, die besagt, dass Gewinne von niedrig besteuerten ausländischen Tochtergesellschaften in bestimmten Fällen in Österreich besteuert werden, wenn sie ausgeschüttet werden. Die EU hat 2016 eine Richtlinie beschlossen, nach der Gewinne von niedrig besteuerten ausländischen Tochtergesellschaften unter bestimmten Voraussetzungen von der Muttergesellschaft zu versteuern sind. Nunmehr bestehen zwei Regelungen mit ähnlichem, aber nicht gleichem Inhalt nebeneinander. Das schafft Unklarheiten.

Nach einer anderen österreichischen Bestimmung dürfen seit 2014 Zinsen oder Lizenzgebühren, die an eine niedrig besteuerte ausländische verbundene Gesellschaft bezahlt werden, steuerlich nicht mehr abgesetzt werden. Die EU beschloss hingegen 2016 eine sogenannte Zinsschranke. Den Einwand Österreichs, dass wir bereits eine Regelung haben, ließ der Europäische Gerichtshof nicht gelten. Nunmehr bestehen auch hier bald zwei Regelungen nebeneinander.

  • Der Gesetzgeber will möglichst präzise sein

Einfache Bestimmungen sind sehr allgemein und lassen einen großen Interpretationsspielraum. Für den Steuerpflichtigen mögen sie einfach zu verstehen sein. Die Behörde versteht sie aber einfach anders. Es kommt dann zu Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung, die vor Gericht enden. Es ist daher wünschenswert, wenn das Steuerrecht präzise ist, einfache Bestimmungen gibt es zur Genüge. Wenn sie von Bedeutung sind, werden sie vom Ministerium auf hunderten Seiten in Richtlinien ausgelegt und kommentiert.

Eine einfache Bestimmung im Körperschaftsteuergesetz, die besagt, dass verdeckte Ausschüttungen das Einkommen einer Körperschaft nicht vermindern, wird auf 129 Seiten Richtlinien behandelt. Eine andere einfache Bestimmung besagt, dass die Steuerpflicht durch "Missbrauch" nicht umgangen werden kann. Dazu gibt es mehrere Hundert Entscheidungen und tausende Seiten Literatur. Einfachheit macht das Leben also nicht unbedingt leichter.

Ein unrealistisches Ziel

Damit soll nicht dem komplizierten Steuerrecht das Wort geredet werden. Es wäre mit viel Aufwand möglich, die eine oder andere Bestimmung zu vereinfachen, zu streichen oder zu vereinheitlichen. Die wichtigste Voraussetzung für ein einfaches Steuerrecht wäre aber, dass die Politik nicht versucht, sich mit dem Abgabenrecht selbst zu verwirklichen. Doch ein unpolitisches Steuerrecht ist ein unrealistisches Ziel.

Dennoch: Ein Steuerrecht, das einfach und gerecht ist und alle gleich behandelt, wäre eine große Aufgabe für die Politik. Es bleibt abzuwarten, ob dies im Rahmen eines "Einkommensteuergesetz 2020" (so der Name des Projekts der letzten Regierung) gelingt oder dieses in den nächsten dreißig Jahren wieder 166 Novellen erleiden muss. (Benjamin Twardosz, 6.12.2019)