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Unter der AK-Partei Erdogans hatte die Türkei lange einen beispiellosen Aufschwung erlebt. Millionen Türken stiegen in die Mittelklasse auf. Doch der Wohlstand ist ungleich verteilt.

Foto: Reuters/MURAD SEZER

Die Lira hat sich wieder stabilisiert, die Inflation ist zurückgegangen und seit zwei Quartalen wächst die türkische Wirtschaft wieder leicht. Auch die Verkaufsstände auf den Plätzen von Istanbul und Ankara sind verschwunden, in denen die Regierung vor den Kommunalwahlen im März vergünstigtes Gemüse anbot. Doch viele Türken trifft die Wirtschaftskrise erst jetzt so richtig. Eine Reihe von Suiziden hat in den vergangenen Wochen das Land aufgeschreckt und eine Debatte über die Wirtschaftslage ausgelöst.

Vier Geschwister im Istanbuler Stadtteil Fatih töteten sich Anfang November selbst. Seit langem hatten sie mit finanziellen Schwierigkeiten gekämpft. Zuletzt war den zwei Brüdern und zwei Schwestern der Strom abgestellt worden, weil sie ihre Rechnung nicht bezahlen konnten. Tage später tötete ein Paar in Antalya seine beiden Kinder und nahm sich dann selbst das Leben. Die Eltern waren seit Monaten arbeitslos und hochverschuldet. Auch als in den folgenden Tagen aus Edirne und Istanbul weitere Suizide gemeldet wurden, berichteten Angehörige von wirtschaftlichen Problemen. Experten weisen aber darauf hin, dass Suizide immer auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen sind.

Untersuchung

Das Familienministerium hat eine Untersuchung angekündigt, und Innenminister Süleyman Soylu will prüfen lassen, wie der Zugang zu Zyanid erschwert werden kann. Das Gift wurde bei einem der Suizide verwendet. Der Opposition und vielen Bürgern reicht dies nicht. Sie werfen der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan vor, mit ihrer neoliberalen Politik die Ärmsten geschwächt zu haben.

Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroglu warf Erdogan in einer Rede im Parlament vor, das Land seit seinem Amtsantritt 2003 heruntergewirtschaftet zu haben. "Kennst du die acht Millionen Arbeitslosen, die du geschaffen hast?", fragte der CHP-Vorsitzende. "Kennst du die Menschen, die sich vom Abfall in den Containern ernähren?" Die Regierung dürfe nicht länger zulassen, dass die Menschen mit Hunger ins Bett gehen.

Unter der AK-Partei Erdogans hatte die Türkei lange einen beispiellosen Aufschwung erlebt. Über Jahre verzeichnete das Land hohe Wachstumsraten, neue Industrien entstanden, die Infrastruktur wurde ausgebaut, das Gesundheitssystem modernisiert. Millionen Türken stiegen in die Mittelklasse auf, konnten sich erstmals Fernseher, Kühlschränke, Autos leisten. Doch der Wohlstand ist ungleich verteilt, und viele Türken sind stark überschuldet.

Hohe Arbeitslosigkeit

"Wo ist der Wohlstand, den die AKP gebracht zu haben behauptet, bei den Arbeitslosen geblieben, die sich das Leben genommen haben?", fragte auch der Abgeordnete Baris Atay von der Türkischen Arbeiterpartei (TIP) im Parlament. Auch Ekrem Imamoglu, der im Juni zum Istanbuler Oberbürgermeister gewählt worden war, gab der AKP eine Mitschuld für die hohe Arbeitslosigkeit, die die Leute in die Verzweiflung treibe.

Der CHP-Politiker hatte schon im Wahlkampf im Frühjahr den Fokus auf soziale Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit gelegt, die die Regierung lieber ignoriert. Schon damals kamen viele Türken wegen der drastischen Preissteigerungen bei Lebensmitteln, Strom und Gas kaum noch über die Runden. Allein im vergangenen Jahr verloren nach CHP-Angaben 789.000 Türken ihre Arbeit, im August erreichte die Arbeitslosigkeit 14 Prozent. (Ulrich von Schwerin, 6.12.2019)