Mehr als heiße Luft: Geschwister sind zugleich Familienmitglieder und Freunde – das macht die Beziehung mitunter ziemlich kompliziert.
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Sie sekkieren sich bis aufs Blut, sie kümmern sich liebevoll umeinander, sie kennen jede Schwachstelle des oder der anderen. Einmal sind sie unzertrennlich, dann wieder sind sie sich spinnefeind: Geschwister. Brüder und Schwestern sind so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft. Ein Leben lang.

"Die Geschwisterbeziehung ist gewöhnlich die am längsten andauernde Beziehung in unserem Leben", sagt Martina Beham-Rabanser, Familiensoziologin an der Universität Linz. Geschwister haben einen Sonderstatus im Geflecht der Bezugspersonen: "Wir wählen sie nicht freiwillig. Und die Beziehung ist praktisch unkündbar."

Gerade in der Kindheit nehmen Geschwister – gleich nach den Eltern – eine immens wichtige Rolle ein. "Drei- bis fünfjährige Kinder interagieren bereits doppelt so viel mit Geschwistern wie mit ihrer Mutter", sagt Stephan Sting, Erziehungswissenschafter an der Universität Klagenfurt.

Forscher sprechen von einer U-Kurve in der Geschwisterbeziehung: Auf eine starke Verbundenheit in der Kindheit und Jugend folgt in den Jahren des Berufseinstiegs und der eigenen Familiengründung oft eine Phase der Loslösung. Mit zunehmendem Alter vertiefen sich die Bande meist wieder. "Selbst wenn die Beziehung sehr konflikthaft ist und der Kontakt zeitweise ganz abbricht, kann die Beziehung immer reaktiviert werden", sagt Sting.

Prägende Gesprächspartner

Wie sehr Geschwister unsere Identität prägen, lässt sich aus dem aktuellen Sozialen Survey Österreich ablesen. Erstmals wurde bei der repräsentativen Umfrage die Frage gestellt, mit wem die Befragten im Alter von etwa 15 Jahren wichtige Themen besprachen und wie stark diese Personen die eigenen Werthaltungen und Einstellungen beeinflusst haben. Dabei zeigte sich, dass Geschwister nach den Eltern und dem besten Freund oder der besten Freundin die wichtigsten Gesprächspartner waren.

Bei der Frage, wer die eigenen Werte "sehr stark" geprägt habe, lagen ebenfalls die Eltern mit rund 43 Prozent Zustimmung an erster Stelle, danach folgten der beste Freund / die beste Freundin (22,5 Prozent) und fast gleichauf die Geschwister (19,5 Prozent). Erst danach folgten Freundeskreis, Großeltern, Lehrer und andere. "Diese differenzierte Analyse hat gezeigt, dass Geschwister von Jugendlichen gleichzeitig der Familie und dem sozialen Bezugssystem der Freunde angehören", sagt Martina Beham-Rabanser, Mitautorin der Studie.

Ambivalent und aufgeladen

Dieser gewichtige Einfluss von Geschwistern darauf, wie wir die Welt sehen, bedeute aber nicht, dass Brüder und Schwestern immer die gleiche Grundhaltung haben, betont Beham-Rabanser. "Gerade in der Auseinandersetzungen, in vertieften Gesprächen und in der Abgrenzung von anderen werden die eigenen Positionen und Werthaltungen erst bewusst."

Fest steht: An Reibungsflächen mangelt es in Geschwisterbeziehungen nicht. Ambivalenz, also das Pendeln zwischen Freund- und Feindschaft, zwischen Zusammenhalt und Konkurrenz, ist an der Tagesordnung. Im Gegensatz zu vielen Freundschaften ist die Geschwisterbeziehung emotional höchst aufgeladen. "Dadurch wird offener kommuniziert, auch was negative Kritik betrifft", sagt Beham-Rabanser. "Schließlich muss man bei Geschwistern nicht die Angst haben, dass sie einem abhandenkommen."

Unbestritten ist, dass Geschwister ein optimales Trainingsfeld für den Erwerb sozialer Kompetenzen sind. Kinder lernen dabei, zu streiten, sich zu versöhnen, sich durchzusetzen und nachzugeben, sich zu solidarisieren, Regeln aufzustellen und Kompromisse zu schließen.

Sandwichkinder und Nesthäkchen

So wichtig diese Familienmitglieder auch sind – die Geschwisterforschung war lange unterbelichtet in Psychologie, Pädagogik und Soziologie. Dabei hat der österreichische Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler (1870–1937), Begründer der Individualpsychologie, bereits in den 1920er-Jahren auf den Einfluss von Geschwistern auf die Persönlichkeitsentwicklung hingewiesen.

Selbst als zweites von sieben Kindern geboren, prägte Adler die Vorstellung davon, dass sich die Geschwisterposition in bestimmten Charaktereigenschaften niederschlägt. Der oder die Erstgeborene bekomme zwar viel Aufmerksamkeit, leide aber unter einem "Entthronungstrauma", sobald ein zweites Kind dazukommt. "Sandwichkinder" hätten die wenigsten Vorteile. Nur das "Nesthäkchen" dürfe sich sicher fühlen und werde besonders stabil und sozial.

In den 1990er-Jahren entwickelte der US-Psychologe Frank Sulloway basierend auf Adlers Ideen die "Nischentheorie", der zufolge Erstgeborene dominanter und konservativer seien, jüngere Geschwister hingegen erst ihre Nische suchen müssten und sich daher experimentierfreudiger, offener und rebellischer zeigten.

Fairness und Fürsorge

Doch sind diese Zuschreibungen noch haltbar? "Mittlerweile wissen wir, dass sie im Allgemeinen nicht zutreffen", sagt Stephan Sting. Ein komplexes Netz an Faktoren – insbesondere das konkrete Lebensumfeld und der Umgang der Eltern mit den Kindern – sind entscheidender als die bloße Rangfolge. Wie sich Kinder entwickeln und wie gut sie miteinander auskommen, hängt stark davon ab, wie in der Familie Fairness gelebt wird, wie Eltern mit Konflikten umgehen und Individualität fördern, sind sich Experten einig. Dass Erstgeborene bessere Noten haben und sich häufiger für Studiengänge entscheiden, die zu besser bezahlten Jobs führen, wie Studien nahelegen, sei darauf zurückzuführen, dass Eltern ihnen mehr Zeit und Fürsorge widmen.

Um den Einfluss der Position auf die Persönlichkeit zu hinterfragen, untersuchten Psychologen der Universitäten Leipzig und Mainz mehr als 20.000 Datensätze. Dabei zeigte sich, dass Erstgeborene eine leicht größere Wahrscheinlichkeit für einen höheren IQ haben. Allerdings ist der Effekt minimal: Um gerade 1,5 Punkte nimmt der IQ pro Kind ab. Für alle anderen Persönlichkeitszüge wurden keinerlei Hinweise auf eine Bedeutung der Geburtenrangfolge gefunden. Der Unterschied im IQ wird mit dem Tutor-Effekt erklärt. "Die Älteren profitieren davon, dass sie den Jüngeren etwas beibringen", sagt Stephan Sting. "Das festigt das Wissen und stärkt die kognitiven Fähigkeiten."

Vorbilder, Wegbereiter, Stütze

Ältere haben außerdem oft eine Vorbild- und auch Wegbereiterfunktion. "Wenn beispielsweise das älteste Kind als erstes in der Familie die Matura macht, öffnet das ganz neue Möglichkeiten für die jüngeren", sagt Sting, der die Bildungswege jugendlicher Migranten untersucht hat. Gerade bei Trennungen und in krisenhaften Familiensituationen können Geschwister eine unersetzliche Stütze sein. Bei Untersuchungen, die Sting in SOS-Kinderdörfern durchgeführt hat, habe sich gezeigt, dass leibliche Geschwister in einigen Fällen "als einzige Beziehungskonstante eine herausragende Bedeutung" hatten.

Dass Kinder mit Geschwistern einen Vorteil gegenüber Einzelkindern hätten, relativiert Beham-Rabanser allerdings. "Die positiven Effekte, etwa auf soziale Kompetenzen, zeigen sich dann am deutlichsten, wenn der Altersabstand gering ist und die Geschwister gleichgeschlechtlich sind", sagt die Familiensoziologin. Mit der Zeit werden die Unterschiede immer kleiner – andere soziale Beziehungen kompensieren das Aufwachsen ohne Geschwister.

Übrigens: Menschen mit Schwestern sind laut "Psychologie Heute" optimistischer und ausgeglichener als solche mit Brüdern. Schwestern ermutigen dazu, über Gefühle zu reden. Und sie sind – ganz traditionellen Rollenbildern entsprechend – die, die meist die Familienbande zusammenhalten. (Karin Krichmayr, 9.12.2019)