Auch nach einem Gerichtsprozess bleibt oft ungeklärt, wieso vor einem Gewaltdelikt kein Schlussstrich unter einer zerrütteten Beziehung gezogen wurde.
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Wenn es Familien mit der Justiz zu tun bekommen, erfährt die Bevölkerung in den allermeisten Fällen nichts davon. Denn die Verhandlungen bei strittigen Scheidungen oder um die Obsorge der Kinder finden an den Bezirksgerichten unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Einblicke hinter die Fassaden der scheinbar heilen Familien erhalten Gerichtsreporterinnen und -reporter erst, wenn das Strafrecht ins Spiel kommt. Was in vielen Varianten passieren kann.

Im schlimmsten Fall geht es um den gewaltsamen Tod von Verwandten. Der spektakulärste Fall der jüngeren Vergangenheit in dieser Hinsicht: der Dreifachmord in einem niederösterreichischen Schloss. Im heurigen Juli wurde Johann Anton G. in Korneuburg nicht rechtskräftig wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, da er seinen Vater, seine Stiefmutter und seinen Bruder erschossen hatte. "Jahrelange Demütigungen" durch den Vater hätten zu einer "Explosion" geführt, argumentierte damals Verteidiger Peter Philipp, der auf Totschlag plädierte.

Wenn der rechtzeitige Schlussstrich verpasst wurde

Die seelischen und körperlichen Verletzungen in den Beziehungen werden oft als Motiv für Gewaltdelikte angegeben. Oft fragt man sich als Beobachter, warum nicht bereits viel früher ein Schlussstrich gezogen wurde und man sich friedlich getrennt hat, wie es die Mehrheit der Paare macht. Nicht immer bieten die Prozesse eine Antwort darauf.

Gelegentlich drehen sich die Rollen aber auch um. Wie im Falle eines 16-Jährigen, der in Wien mit einer Raubanklage vor einem Schöffengericht saß. Die Beute: 15 Euro. Das Opfer: sein eigener Vater, ein AHS-Lehrer. Wie sich herausstellte, waren die Eltern mit der Erziehung des Pubertierenden heillos überfordert. Vor dem angeblichen Vorfall hatte der Vater bereits viermal die Polizei eingeschaltet, die gegen den Teenager Betretungsverbote aussprach.

Wenn Angehörige die Aussage verweigern dürfen

Warum sein Vater immer wieder die Polizei zu Hilfe rief, wollte der Vorsitzende von dem unbescholtenen Jugendlichen wissen. "Das habe ich nie ganz verstanden, es ist eine Art Machtkampf, denke ich. Die Polizei ist immer wieder plötzlich im Zimmer oder der Dusche gestanden, weil er behauptet hat, ich randaliere." Verurteilt wurde der geständige Jugendliche nicht. Seine Eltern machten von ihrem Aussageverweigerungsrecht als Verwandte Gebrauch, die Folge war ein rechtskräftiger Freispruch.

Das Recht, eine Zeugenaussage zu verweigern, ist im heimischen Rechtssystem nicht das einzige Privileg für Familien. Im Paragraf 166 des Strafgesetzbuches ist die "Begehung im Familienkreis" geregelt. Der wichtigste Punkt: Zahlreiche Delikte, darunter Sachbeschädigung und Diebstahl, können nur vor Gericht kommen, wenn das Opfer das verlangt. Selbst wenn sich die Staatsanwaltschaft des Falles annehmen darf, ist die Strafdrohung deutlich reduziert, wenn man mit dem Verwandten in einer Hausgemeinschaft lebt.

Was aber nicht bedeutet, dass dem Gesetzgeber der Schutz von Familienmitgliedern egal ist. Im Gegenteil, erst am 1. Jänner 2016 wurde, von der rot-schwarzen Regierung beschlossen, der Paragraf 33 im Strafgesetzbuch erweitert. Der regelt die "besonderen Erschwerungsgründe" bei der Strafzumessung nach einer Verurteilung. Seit knapp vier Jahren wiegt die Schuld nun schwerer, wenn vor allem Gewalt- oder Sexualdelikte im Familienkreis begangen werden. Nicht nur das: Auch Angriffe gegen frühere Partnerinnen und Partner sind in den Erschwerungsgrund inkludiert.

Wenn Kinder zu Opfern werden

Besonders tragisch wird es, wenn es nicht um Vorsatzdelikte geht. Etwa wenn ein Kind sein Leben verliert, da die Eltern fahrlässig gehandelt haben. Erst diese Woche wurde in Korneuburg gegen eine 39-jährige Mutter, deren beiden Kinder bei einem Verkehrsunfall starben, wegen grob fahrlässiger Tötung verhandelt. Die Frau hatte die Kinder am Abend in einem Anhänger ihres Elektrofahrrades transportiert, als sie von einem Pkw-Lenker gerammt wurde. Allerdings trugen die Kleinen keinen Helm, Rücklichter oder -strahler hatte das Gefährt nicht, und auch eine vorgeschriebene Fahnenstange fehlte. Verurteilt wurde sie jedoch nicht. Das Gericht entschied sich für eine Diversion, innerhalb eines halben Jahres muss die Frau 200 Stunden gemeinnützige Leistungen erbringen.

Wenn kein gerechtes Urteil möglich ist

Ein Wiener Paar erhielt dagegen vor knapp einem Jahr wegen des gleichen Delikts bedingte Haftstrafen von zwölf beziehungsweise 18 Monaten. Sie hatten ihren Vierjährigen in sein Zimmer geschickt, wo er aus dem offenen Fenster im siebenten Stock tödlich abstürzte. Die Staatsanwaltschaft hatte Vernachlässigung Unmündiger angeklagt, der Schöffensenat unter Vorsitz von Nicole Baczak sah aber eine grob fahrlässige Tötung, da das Fenster stundenlang offen gestanden sei. Aber Baczak stellte sich in ihrer Begründung selbst eine Frage: "Wie soll man das bestrafen? Es wird wahrscheinlich kein gerechtes Urteil möglich sein, wenn Eltern ein Kind verlieren." (Michael Möseneder, 10.12.2019)