Im Gastkommentar warnt Peter Kolba, Obmann des Verbraucherschutzvereins, der VW-Konzern könne die Vergleichsverhandlungen hinauszögern.

"Die Justiz ist die Basis, damit alles andere funktioniert", schrieb STANDARD-Redakteurin Maria Sterkl zutreffend im Kommentar mit dem aussagekräftigen Titel "Den Lästigen den Rücken stärken". Was passiert, wenn der Normalbetrieb in der Justiz nicht funktioniert, können wir in Deutschland am Beispiel VW-Abgasskandal sehen – hautnah aus der ersten Reihe fußfrei!

Das deutsche Bundesamt für Justiz war bislang nicht in der Lage festzustellen, wie viele Autokäufer sich an der Musterfeststellungsklage gegen VW beteiligen. Unglaublich: Über ein Jahr nach Start dieses neuen Rechtsinstruments kann niemand die genaue Zahl jener Dieselfahrer nennen, die sich an diesem Mammutverfahren gegen VW vor dem Oberlandesgericht Braunschweig beteiligt haben! Es geht um jene Diesel-Pkws, die der VW-Konzern mit illegalen Abschalteinrichtungen an seine Kunden verkauft hat und die dafür sorgen, dass die – an und für sich vorhandene – Abgasreinigung auf der Straße gedrosselt oder komplett ausgeschaltet wird. In der Folge stoßen diese Autos ein Vielfaches des gesundheitsgefährdenden Abgases Stickstoffoxid aus, als gesetzlich erlaubt ist.

Säumnis der Justizverwaltung

Der Ball liegt beim deutschen Bundesamt für Justiz – also bei der Justizverwaltung. Dieses lieferte bisher nur grobe Schätzungen: 445.000 Anmeldungen habe es gegeben, aber rund 77.000 Fälle seien am 29. September wieder abgemeldet worden. Keine Ahnung, wie viele Doppel- oder Falschmeldungen es gibt, sowohl bei den An- als bei den Abmeldungen.

Diese eklatante Säumnis der deutschen Justizverwaltung – unterbesetzt wie in Österreich – geht voll auf Kosten der Geschädigten. Warum, ist einfach erklärt. Die beste Lösung in solchen Fällen ist, dass sich die Streitparteien auf einen außerordentlichen Vergleich einigen, statt jahrelang gegeneinander zu prozessieren, was letztlich nur Rechtsanwälte gut nährt.

Vor dem Oberlandesgericht in Braunschweig wollen Verbraucherschützer stellvertretend für hunderttausende VW-Kunden Ansprüche durchzusetzen.
Foto: APA / AFP / Ronny Hartmann

Ernsthafte Vergleichsverhandlungen

Ein solcher Vergleich liegt im Falle VW sogar in der Luft, nachdem der Vorsitzende des Richtersenats des Oberlandesgerichts Braunschweig, Michael Neef, am zweiten Verhandlungstag am 18. November die Streitparteien nachdrücklich aufgefordert hat, in "ernsthafte Vergleichsverhandlungen einzutreten", und ihnen bis Ende des Jahres eine Frist setzte.

Ohne verlässliche Angaben über die Mengenstruktur der vorliegenden Fälle kann sich der VW-Konzern leicht darauf ausreden, über keine seriöse Berechnungsbasis für Vergleichsverhandlungen zu verfügen. Die schleppende Justizverwaltung liefert dem Konzern also einen aufgelegten Elfmeter, Vergleichsverhandlungen zu verschleppen.

Die Zeit drängt

Eine solche Verzögerung hätte fatale Folgen für die betrogenen Autofahrer. Warum? Das ist nicht ganz leicht zu erklären. Selbst jene Oberlandesgerichte, die den VW-Konzern immer häufiger wegen "vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung" schuldig sprechen und VW zu einem Rückkauf der VWs, Audis, Seats und Škodas verurteilen, räumen ein, dass der Konzern für die bisherige Nutzung der Fahrzeuge ein sogenanntes Nutzungsentgelt verlangen kann. Dieses Nutzungsentgelt wird vom Schadenersatz abgezogen. Im Klartext: Je länger es dauert, bis ein Vergleich zustande kommt, desto länger müssen die betrogenen Autofahrer mit ihren Dieselfahrzeugen weiterfahren und umso weniger bis gar nichts bleibt ihnen vom Schadenersatz übrig. Gewinner wäre dann jener Konzern, der seit Jahren betrogen hat.

Die deutsche Musterfeststellungsklage betrifft auch jene 1.100 Österreicher und Südtiroler, denen der Verbraucherschutzverein geholfen hat, sich zu beteiligen. Da die deutsche Justizverwaltung offensichtlich versagt, liegt es an der Zivilgesellschaft, dennoch für "Strafen" zu sorgen. Ein anderer Weg, kosten- und risikolos mehr Gerechtigkeit zu erreichen, besteht darin, individuell gegen den VW-Konzern zu klagen – und zwar in Deutschland. Dort verurteilen immer mehr Gerichte und Oberlandesgerichte die Autokonzerne klipp und klar wegen "vorsätzlicher sittenwidrigen Schädigung". Daher sind Prozessfinanzierer – rein kommerzielle Unternehmer – jetzt auch bereit, Einzelklagen abzusichern und nicht nur Sammelklagen. Sie übernehmen das Kostenrisiko und erhalten dafür eine Erfolgsprovision von zwischen 25 und 35 Prozent. Auch österreichische Kunden können dieses Angebot, risiko- und kostenlos in Deutschland zu klagen, mithilfe des Verbraucherschutzvereins wahrnehmen. Die Zeit drängt. Je mehr Fahrzeuginhaber auf Schadenersatz klagen und gewinnen, desto mehr wird vom Unrechtsgewinn abgeschöpft.

Keine effizienten Verfahren

Der Dieselskandal zeigt aber auch deutlich auf: In Europa gibt es bei grenzüberschreitenden Massenschäden keine effizienten Verfahren, um Schadenersatzansprüche von Konsumenten rasch und prozessökonomisch abzuklären. Das führt aber dazu, dass Rechtsbrecher es wieder und wieder versuchen werden und auch vor Kartellabsprachen nicht zurückschrecken. Beim Dieselskandal geht das nicht nur auf Kosten der Käufer, sondern auf Kosten der Gesundheit, vor allem von Kindern und älteren Menschen, die durch weit überhöhte Stickoxid-Werte (in Kombination mit Feinstaub) an der Lunge, aber auch im Herzkreislaufsystem geschädigt werden. (Peter Kolba, 6.12.2019)