Die Party endet immer in der Küche, auch auf dem Gut der Witwe Ranjewskaja, wo der Diener Firs (Otto Schenk, li.) und die Gouvernante Charlotta (Alexander Absenger) noch einen Zug nehmen.

Astrid Knie

Das Theater in der Josefstadt rüstet sich bereits für die neue Konkurrenzsituation mit dem künftigen Volkstheater unter Kay Voges. Dieser hat ja einen musikalischen Schwerpunkt für das Haus angekündigt, wird jetzt aber von der Josefstadt rechts überholt. Zum neuen Kirschgarten legt das Theater nämlich eine eigens produzierte CD vor mit (in der Aufführung live performten) Liedern des Singersongwriters Ian Fisher. Melancholische Schmerzensgesänge, die aber irgendwie schön dahingurgeln und der aufgekratzten Gutshofgesellschaft jene Erdung verschaffen, die sie bitter nötig hat.

JosefstadtTheater

Die nun nach langer Zeit wieder zusammentreffenden Gutsbewohner zerfließen vor Leidenschaft für ihre jeweils eigenen persönlichen Problemchen und drohen im entstehenden Chaos zu versinken – wenn da nicht irgendwann wieder ein Song an der Gitarre beginnen würde! Und sie neue Ufer für ihre schweren Gefühle wittern würden.

"Ökonomisch anämisch"

So stark wie in diesem Kirschgarten hat man das Josefstadt-Ensemble lange nicht mehr gesehen. Regisseurin Amélie Niermeyer hat die Körper und Stimmen der Schauspieler so dermaßen wachgerüttelt, dass man manche von ihnen nicht gleich wiedererkennt. Niermeyer, die in Wien bisher nur Oper inszeniert hat (zuletzt Rusalka im Theater an der Wien) münzt ihr Josefstadt-Debüt in eine vibrierende Inszenierung um, nach der man davon ausgehen kann, sie hier wieder anzutreffen.

Das schöne Landgut der "ökonomisch anämischen" Witwe Ranjewskaja (Sona MacDonald) steht zur Versteigerung an. Alles liegt im Argen, aber keiner unternimmt etwas! Wir betrachten eine fahrige, aber in Wahrheit gelähmte Gesellschaft von Idiopathen. Niermeyer ringt diesem totgespielten Zustand etwas Eigenes ab. Und zwar, indem sie das Figurenpersonal nachhaltig demokratisiert: Alle bekommen gleich viel Raum, um ihre Schicksalhaftigkeit zu zeigen. Es haben ja schon bei Tschechow die kleinsten Rollen die profundeste Tiefenschärfe: Nicht nur der alte Diener Firs, den Otto Schenk als leibhaftiges Zitat einer vergangenen Epoche inthronisiert. Auch die Gouvernante Charlotta (Alexander Absenger) triumphiert als tragisches "Zirkuskind", als Transe ohne Halt, die der Verkauf des Gutes ins Prekariat reißen wird und die sich mit Händen und Füßen und Klamotten gegen ihre Außenseiterexistenz wehrt (famose Kostüme: Annelies Vanlaere).

Scherben, duschen, speiben

So malt Niermeyer ein Panoptikum der vergangenheitsseligen Modernisierungsverlierer und der von ihnen Abhängigen. Zu ihnen gehören der poetisch veranlagte, aber "in den 80ern" steckengebliebene Onkel Leonid (Götz Schulte); der mit Tabletten hochgejazzte Gutsbesitzer Simeonow (Robert Joseph Bartl), der, wenn wieder einmal alles flau ist, seinen schwermütigen Kopf minutenlang an die Wand lehnt. Oder die panische Adoptivtochter Warwa (Silvia Meisterle), die leibliche Tochter Anja (Gioia Osthoff) oder der ewige Student Trofimow (Nikolaus Barton), der als Fridays-for-Future-Typ die weitsichtigsten Reden hält: "Wir müssen uns verändern, verzichten!" (Übersetzung: Ulrike Zemme, Fassung: Elisabeth Plessen). Nur leider geht dieser Schlurf in seinem Strickpullover jedem auf die Nerven.

Sie alle stürzen sich in dem zweistöckig aufragenden, verschachtelten Haus (Bühne: Stefanie Seitz) von Anfang an ins Gemenge, um mit dem eigenen Leben nicht so allein zu sein. Sie fallen einander ins Wort, keiner hört dem anderen zu. Häferln zerbrechen, einer speibt in die Abwasch, ein anderer (Claudius von Stolzmann als Diener Jascha) duscht und duscht, um sich die "Unkultur" des Landlebens vom Leib zu halten. Splitternackt steht er mit dem Rücken zum Publikum, woraufhin ihn seine unglückliche Freundin (Alma Hasun) anfaucht: So etwas wolle doch keiner mehr! Gemeint ist Nacktheit am Theater.

Körperkomik

Die Josefstadt hat sich mit diesem Kirschgarten Terrain erobert. Niermeyer rüttelt am realistischen Repräsentationsspiel zugunsten einer vorzüglichen Körperkomik, die das Stück (allerdings mit verschlepptem Finale) lebhaft in Gang hält. Dabei werden ungeahnte Talente kenntlich. Raphael von Bargen (als Lopachin) bläst nach dem Deal seines Lebens (er kauft das Gut samt Kirschgarten) so irre ins Saxofon, als hätte er die Motorsägen, die den edlen Bäumen zu Leibe rücken werden, schon mitangeworfen. (Margarete Affenzeller, 6.12.2019)