Grigory Sokolov – hier nach einem Konzert im Juli 2018 im Schloss Esterhazy in Eisenstadt.

Schloss Esterhazy

Ist es Kunst oder Religion? Manches spricht für Letzteres: so stark gedämpftes Licht, dass Programmheftlesen im Saal so gut wie unmöglich ist, weihevolle Langsamkeit im Gang zum Klavier, eine praktisch einhellige Verehrergemeinde. Und selbst der belesene Konzerthaus-Mitarbeiter an der Garderobe weiß, dass es eigentlich nicht erlaubt sei, etwas am Künstler auszusetzen.

Natürlich ist Grigory Sokolov ein fantastischer Pianist, und doch: Wie entsteht eigentlich der Schein, er sei über jede Kritik erhaben? Bei Licht betrachtet (und mit der Frage im Hintergrund, wie es wäre, fände dasselbe Konzert bei normaler Scheinwerferbeleuchtung und ohne solch inszenierte Versenkung statt) ist Sokolov bestimmten nicht ganz unproblematischen Traditionen verpflichtet, die besonders bei Mozart zum Vorschein kommen.

Mozart durch die Brille Brahms'

Dem Meister der wohlgesetzten Nuancen – "Klangmagier" ist vielen Rezensionen zufolge gerade ein Beiname des Pianisten – unterlaufen hier trotz aller wattierten Gleichförmigkeit bei genauem Zuhören viele kleine, aber entscheidende Ungereimtheiten: falsche Betonungen gegen den Takt, wo sie nicht vorgesehen sind. Im Gegenzug fehlt praktisch jede notierte Akzentuierung. Und überhaupt wird im Schönklang so manches Detail verdunkelt.

Dadurch wirken Präludium und Fuge C-Dur K 383a eher unmotiviert, während Sokolov in der Sonate A-Dur K 300i (mit dem Alla turca) besonders im Mittelsatz viel spätromantisch gefärbte Melancholie fand, ebenso im Rondo a-Moll K 511. Merkwürdig widersprüchlich, dass er im historisch informierten Sinn eigene Verzierungen anbringt, aber Mozart wie durch die Brille von Brahms spielt.

Dessen späte Zyklen op. 118 und 119 absolvierte er so nobel und gesetztwie die sechs (!) Zugaben von Chopin (2), Rachmaninoff, Brahms, Bach und Schubert. Dessen As-Dur-Impromptus D 935/2, eines seiner Lieblings-Encores, das er immer ähnlich spielt, war ausgesprochen schön und zugleich schön fad, eher Adagio als Allegretto, wie der Komponist vorgesehen hat.

Sokolov ist ein fantastischer Pianist, doch vielleicht noch fantastischer ist die Aura, die ihn umgibt. (Daniel Ender, 7.12.2019)