Im Gastkommentar warnt der ehemalige Ö1-Chef Peter Klein: Die technologische und ökonomische Entwicklung hat eine Entliterarisierung der Gesellschaft zur Folge.

Die Kulturnation Österreich, so viel steht fest, zählt nicht zu den Vorzugsschülern.
Illustration: Felix Grütsch

Es gehört zur liebgewonnenen politischen Folklore Österreichs, rituell die immer gleichen Probleme zu beschwören. Zweimal im Jahr meldet sich die Fremdenverkehrswirtschaft und befürchtet einen Rückgang der Besucherzahlen. Um dann, nach Ende der Saison, zufrieden zu vermelden, dass eh alles wieder ursuper war. Einmal pro Jahr meldet sich die Bundeswirtschaftskammer und prangert die verwerfliche Praxis der Schwarzarbeit im Lande an. Freilich ohne zu fragen, warum Menschen lieber einen polnischen oder kroatischen Alleskönner für eine Wohnungsrenovierung engagieren als vier verschiedene Meisterbetriebe zum dreifachen Preis. Jahr für Jahr melden sich Bildungseinrichtungen und die in ihnen beschäftigten Forscher, um den sogenannten sekundären oder funktionalen Analphabetismus zu beweinen. Und alle paar Jahre erscheint die gefürchtete Pisa-Studie, um Zeugnisse zu verteilen.

Bilderdominierte Welt

Die Kulturnation Österreich, so viel steht fest, zählt nicht zu den Vorzugsschülern. Wir rangieren im Mittelfeld. Bestenfalls. Besonders beklagenswert: Die Jugend im Land der Dichter (und Dichterinnen) liest weder gut noch gerne. Wenn überhaupt. Für 35 Prozent des österreichischen Nachwuchses ist Lesen Zeitverschwendung, mehr als die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler liest nur, wenn sie muss. Etwa 300.000 erwachsene Österreicherinnen und Österreicher können, so die Schätzungen heimischer Bildungsforscher, zwar Buchstaben erkennen, einzelne Wörter und sogar Sätze entziffern, sie können aber nicht "sinnerfassend" lesen. Bei diesem Artikel beispielsweise wären sie schon längst ausgestiegen – vorausgesetzt, sie hätten überhaupt angefangen, ihn zu lesen. Die sekundären oder funktionalen Analphabeten können häufig keine Gebrauchsanweisungen und keine Beipackzettel lesen, von langatmigen Feuilletons und erst recht von dem, was man als ernstzunehmende Literatur bezeichnet, ganz zu schweigen. Etwa ein Fünftel aller Pflichtschulabgänger, sagt uns die Leseforschung, ist nicht imstande, einen gelesenen Text inhaltlich wiedergeben.

Furchtbar, klagt das gebildete Österreich. So ein reiches Land und so viele blöde Mitbürger. Die Frage, wozu Menschen in einer bilderdominierten Welt, in einer Welt der Piktogramme und Symbole, in einer Welt des Internets, sozialer Medien und schriller Boulevard- und Gratiszeitungen eigentlich Thomas Mann oder zumindest Donna Leon lesen können müssen, wird hingegen nicht gestellt. Stellen wir sie also.

Wissen erwerben

Die gesellschaftliche Bedeutung des Lesens basiert, vor allem seit der Erfindung des Buchdrucks, auf der Tatsache, dass das Wissen dieser Welt in Texten, Dokumenten, Zeitungen, Zeitschriften und Büchern gespeichert und damit zugänglich ist. Erwachsen, gebildet und tüchtig ist nur, wer imstande und willens ist, dieses Wissen zu erwerben. Während, wie der französische Historiker Philippe Ariès in seiner "Geschichte der Kindheit" eindrucksvoll dokumentiert, die Kindheit im Mittelalter noch vor dem zehnten Lebensjahr endete – weil alles, was es zu wissen und zu erfahren gab, durch gelebte Praxis erworben werden konnte –, hat sich, nach Gutenberg, die Kindheit als Lernzeit stetig verlängert. Die alltägliche Erfahrung reicht zum Verständnis der Welt längst nicht mehr aus. In der Folge hat sich, Schritt für Schritt, die Schulzeit verlängert. Die "Reifeprüfung" legt man heute mit 18 oder 19 ab; bis ein Studium abgeschlossen ist, kann es dann, wie wir wissen, noch einige Jahre dauern.

Das Fernsehen und vor allem das Internet könnten die Phase des Wissenserwerbs nun wieder wesentlich verkürzen. Wenn sich Achtjährige Pornos im Internet anschauen können, müssen sie nicht mehr unbedingt darauf warten, bis sie mit zwölf oder vierzehn "aufgeklärt" werden. Wenn Wissen und gesellschaftliche Orientierung über bilddominierte Medien verbreitet werden, muss man nicht mehr unbedingt dicke Wälzer studieren. Wenn aus Wörtern und Sätzen Kürzel werden, ist es nicht mehr notwendig, geschliffene, vollständige Sätze zu formulieren. Smartphones und andere Higthtech-Geräte kommen heute ohne schriftliche Gebrauchsanleitung aus. Sie erschließen sich gleichsam von selbst und begründen damit einen Teil ihres Erfolgs. Möglicherweise stehen wir am Beginn eines neuen Zeitalters. Der Anfang vom Ende der Lesekultur scheint eingeleitet.

Lesen – ein Privileg

Dem Lesen von Sachbüchern und Romanen könnte bald ein ähnlicher Stellenwert zukommen wie dem Studium des Altgriechischen oder des Sanskrit. Lesen könnte bald etwas für Liebhaber werden, eine Orchideenwissenschaft für Spezialisten und für Menschen mit Muße und Zeit. In einer auf Effizienz und Zeitökonomie ausgerichteten Welt ist das Verhältnis von Informationsgewinn und investierter Zeit beim Lesen von, sagen wir, Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" nicht gerade günstig. Allein die Privilegierten werden hinkünftig die Zeit dafür aufbringen können, das Prekariat hat anderes zu tun. Und Lustgewinn, wenn auch einen anderen, erfährt man beim Konsum schnellerer Medien auch.

Der Klage über den sekundären oder funktionalen Analphabetismus wohnt ohne Frage ein gewisser Zynismus inne. Die technologische und ökonomische Entwicklung hat, geradezu zwangsläufig, eine Entliterarisierung der Gesellschaft zur Folge. Man kann heutzutage auch ohne Bücher ein funktionales Mitglied dieser Gesellschaft sein.

Einen Vorteil freilich bietet die Tatsache, dass allein in Österreich Hunderttausende zu den funktionalen oder sekundären Analphabeten gezählt werden müssen. Für die Bildungsbürger wird es wieder leichter, sich abzugrenzen. Da mittlerweile ja auch das Proletariat BMW fährt, Fernreisen bucht und Markenkleidung trägt, bleibt als sicheres und brauchbares Unterscheidungsmerkmal immer noch der Stolz auf die eigene Bibliothek.

Über Nichtleser lässt sich leicht die Nase rümpfen. Denen aber ist das ziemlich sicher völlig wurscht. (Peter Klein, 8.12.2019)