Seit gut drei Jahren ist es der erste Gipfel im sogenannten Normandie-Format: Am Montag empfängt Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Russlands Präsidenten Wladimir Putin und dessen ukrainischen Kollegen Wolodymyr Selenskyj. Vorausgegangen waren ein Gefangenenaustausch und eine holprige Truppenentflechtung entlang der Konfliktlinie im Donbass.

Der Gipfel zeigt: Es geht voran. Doch immer zwei Schritt vor – und mindestens einen zurück: Selenskyj hatte noch gar nicht Richtung Paris abgehoben, da riefen seine politischen Gegner um Ex-Präsident Petro Poroschenko in Kiew bereits zum Maidan. Die Demonstration solle "rote Linien" verdeutlichen, die die Ukraine nicht überschreiten könne und werde, sagte Poroschenko. Nationalistische Kräfte laufen seit Monaten Sturm gegen Selenskyj und dessen Donbass-Politik. Eine Föderalisierung der Ukraine und einen Sonderstatus für den Donbass lehnen sie ab.

Ganze Landstriche in der Ostukraine sind vermint. Die Sprengfallen unschädlich zu machen ist eine enorm schwierige Aufgabe – genauso wie die Beilegung des Konflikts selbst.
Foto: Imago / Alexander Rekun

Der Donbass bietet eine Reihe von Fallstricken für den ukrainischen Präsidenten. Die sogenannte Steinmeier-Formel, also der Plan zur zeitlichen Umsetzung des Minsker Abkommens, hat Selenskyj bereits innenpolitisch in Bedrängnis gebracht. Die Frage, ob erst die Wahlen oder erst der Sonderstatus, schafft in Kiew nicht nur bei Nationalisten böses Blut. Damit verbunden sind weitere heikle Fragen – eine zentrale lautet: Wer darf in den abtrünnigen "Volksrepubliken" der Ostukraine eigentlich abstimmen?

Ungeklärtes Wahlrecht

Sind es die jetzigen Bewohner des Gebiets? Das dürfte zur Zementierung der derzeitigen Verhältnisse führen. Doch es gibt auch immerhin rund 1,5 Millionen sogenannte Binnenflüchtlinge in der Ukraine, die aus der Krisenregion geflohen sind; eine weitere Million soll sich in Russland befinden. Viele von ihnen haben schon russische Pässe. Hier bietet sich ein breites Feld zur Manipulation an – von beiden Seiten.

Zudem ist die Art des Sonderstatus umstritten. Russland besteht auf einer engen wirtschaftlichen und politischen Bindung der Region an das eigene Land. Das wird bei der Westdrift der übrigen Ukraine über kurz oder lang zu neuen Spannungen und möglicherweise zur Abspaltung führen.

Wie schwer Selenskyj jeder Kompromiss fällt, wird an der Truppenentflechtung deutlich, die nur mit viel Mühe gelang. Jeder Meter, den die eigenen Soldaten zurückgingen, um eine entmilitarisierte Pufferzone zu schaffen, wurde von den Rechten als Kapitulation gebrandmarkt.

Brauchbares schlechtes Beispiel

Doch nicht nur Kiew fallen Kompromisse schwer: Der russischen Führung ist angesichts eigener sozialer und wirtschaftlicher Probleme an einem Erstarken des südlichen Nachbarn nicht gelegen. Im Gegenteil: Solange die Ukraine schwach und depressiv ist, kann sie in den eigenen Medien stets als schlechtes Beispiel für politische Umwälzungen herhalten: "Seht her, wie es euch geht, wenn ihr Veränderungen erzwingen wollt."

Derzeit funktioniert das hervorragend, allerdings wird die Wirtschaft der Ukraine in den nächsten drei Jahren (von zugegeben niedrigem Niveau) nach Schätzungen der Nationalbank jeweils zwischen 3,5 und vier Prozent wachsen, während die russische Wirtschaft seit sechs Jahren schwächelt und auch in absehbarer Zukunft – unter anderem wegen der aufgrund der Sanktionen fehlenden Investitionen – keine großen Sprünge machen dürfte. Die Sanktionen will Wladimir Putin loswerden, doch nicht um den Preis eines völligen Einflussverlusts und womöglichen – in Moskau als Horrorszenario betrachteten – Nato-Beitritts der Ukraine.

Zudem würde eine Aufgabe des Donbass in Russland von vielen als Verrat angesehen. Die Übernahme der Krim hat Putins Popularität vor fünf Jahren in neue Höhen katapultiert. Sie hat aber auch Erwartungen einer Einung der "russischen Welt" unter Moskauer Führung geweckt. Gerade konservativ-nationalistische Kräfte, eine wichtige Machtstütze, würden gegen ein Fallenlassen der Separatisten rebellieren.

Teure Friedensperspektive

Darum wird Moskau in den Gesprächen immer Maximalforderungen aufstellen. Putin sehe Selenskyj nicht als gleichwertigen Verhandlungspartner, sickerte aus gut informierten Kreisen in Moskau durch. Der langjährige Kremlchef meint, den Newcomer in die Enge treiben zu können. Grundlos ist die Annahme nicht: Putin ist als zäher Gesprächspartner bekannt. Das Minsker Abkommen gilt durchaus als ein Verhandlungserfolg für Moskau.

Dauerhafter Frieden im Donbass braucht zudem Geld. Das birgt weitere Probleme: Moskau, das die Separatistenrepubliken derzeit finanziell am Leben hält, will die Bürde an Kiew abgeben, das sich bis auf die Pensionszahlungen zurückgezogen hat. Doch die ukrainische Führung kann sich den nötigen milliardenschweren Wiederaufbau nicht leisten. Es geht nicht nur um die Wiederherstellung der in fünf Jahren Krieg zerstörten Häuser und Infrastruktur, es geht auch um eine Neuausrichtung der dortigen Wirtschaft. Die dominierende Kohleförderung hat keine Zukunft.

Soll der Donbass nicht für Jahrzehnte als depressive Region bestehen bleiben, müssen dort mit enormen Investitionen neue Wirtschaftszweige angesiedelt werden. Theoretisch könnte hier die EU helfen, doch hat sie mit Italien und Griechenland eigene Sorgen. Ob die Initiative des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft, eine internationale Geberkonferenz für die Ostukraine einzuberufen, ein Echo findet, bleibt abzuwarten. Es ist aber zumindest ein erstes Signal der Verantwortung. (André Ballin aus Moskau, 9.12.2019)