Das Gehirn meiner Mutter verfällt. Sie verliert ihre Erinnerung, ihre Sprache, ihre Identität, irgendwann ihr Selbst. Meine Mutter hat Alzheimer, sie weiß es bis jetzt nicht, ich will es ihr nicht sagen. Ich wollte es ja auch lange Zeit nicht wahrhaben.

Meine Mutter war Künstlerin, eine eigenständige Person, immer ein wenig entrückt. Als wir Kinder waren, hat sie manchmal vergessen, meinen jüngeren Bruder und mich von der Schule abzuholen. Jetzt wird sie älter, da verstärkt sich das offenbar – so habe ich es mir lange Zeit erklärt, als sie vor zwei Jahren immer sonderbarer wurde. Dann haben sich die Anrufe von Nachbarn gehäuft: Mami steht im Garten, kennt sich nicht aus. Sie zahlt ihre Rechnungen nicht. Sie vergisst das Essen auf dem Herd, alles brennt an. Vor allem: Sie ist aggressiv, was sie früher nicht war.

Zunächst hat die Tochter die Pflege noch selbst übernommen, mittlerweile braucht es eine 24-Stunden-Hilfe.
Foto: www.corn.at , Heribert CORN

Demenzpatienten sind wie Kinder

Meine Mutter hat Ärzte immer gemieden, aber auch ohne Diagnose war schließlich klar, dass sie nicht mehr allein im Waldviertel leben kann. Sie war zunächst sehr bockig, wollte nicht raus aus ihrem Haus, wir konnten sie nur mit viel Mühe und gutem Zureden dazu bringen, in eine Wohnung in Wien zu ziehen. Mein Mann und ich wohnen ums Eck, da können wir sie ein wenig im Auge behalten, dachten wir uns. Trotzdem ist sie dreimal ausgebüxt, mit dem Taxi zurück ins Waldviertel. Dort stand sie dann im dünnen Mantel im Schnee und war verwirrt, dazu noch schrecklich wütend. Als ich sie abholen wollte, war sie aufgebracht, hat mich angeschrien und weggestoßen. Drei Stunden hat es gedauert, bis ich sie dazu gebracht habe, aus der Eiseskälte zurück in mein Auto zu steigen. Heute weiß ich, dass diese plötzliche Aggression ein Teil der Krankheit ist. Demenzpatienten sind wie Kinder, die alles sagen, was sie denken, sie sind extrem sensibel und äußern alle Gefühle ungefiltert. Gleichzeitig verengt sich für sie alles, wie in einem Tunnel. Sie bekommen Panik und wollen raus, ins Freie, in die Weite. Deshalb laufen sie so oft weg, irgendwohin. An diesem Tag ist mir klar geworden: Meine Mutter braucht Hilfe, dauerhaft. Und ich bin es, die hilft.

Die mühsame Suche nach einer passenden Hilfe

Mein Bruder lebt in den USA, dazu war in unserer Familie immer ich diejenige, die eingesprungen ist, wenn es Probleme gab. Ich bin ehrlich: Es ärgert mich, wie selbstverständlich mein Bruder es findet, dass ich mich kümmere – während er einmal im Jahr am Geburtstag von Mami vorbeischaut. Ich habe einen Beruf, bin ausgelastet. Vielleicht gibt es Geschwister, die eine solche Krise zusammenschweißt. Ich habe es anders erlebt.

Aber er hat mir geholfen, als es darum ging, Mami dazu zu bringen, mir die Vorsorgevollmacht zu übertragen. Auf ihn hört sie mehr, sonst hätte sie vermutlich nie unterschrieben. Dank der Vollmacht kann ich nun ihre Rechnungen zahlen, ich kann mich um ihre Gesundheitsangelegenheiten kümmern und sie schützen. Zum Glück haben wir das sehr schnell in die Wege geleitet, ihr Krankheitsbild hat sich nämlich rasant verschlechtert. Nicht nur das Reden, das Denken, auch das Laufen fällt ihr schwer. Es dauert ewig, bis sie sich angezogen hat, wenn sie es überhaupt allein schafft. Sie hat sich dann auch selbst gefährdet, ist nächtens raus, hat untertags nicht mehr geschlafen, vergessen, etwas zu essen. Ich war völlig überfordert. Ich musste einen 24-Stunden-Pflegedienst für sie engagieren.

Bei der Suche nach Hilfe habe ich dann einiges erlebt, das erstaunlich übergriffig war. Manche Pfleger haben mit meiner Mutter gesprochen, als wäre sie völlig debil, kein erwachsener Mensch. Oder haben sie betatscht, Mami wollte aber nicht, dass dauernd jemand ihren Arm tätschelt. Auch das Ansuchen um Pflegestufe war sehr unangenehm. Die Bitte um finanzielle Unterstützung ist per se schon schambehaftet, dazu muss ein Arzt in die Wohnung kommen und den Betreuungsbedarf ermitteln. Der ist einfach zur Tür rein, hat sich weder vorgestellt noch gegrüßt, sondern gleich sein Verhör gestartet. Meine Mutter war empört, dieser fremde, unhöfliche Mann. Sie ist auf den Balkon, hat die Türe zugeknallt, uns quasi ausgesperrt. Ich konnte sie nur mühsam überreden, wieder reinzukommen. Warum die Leute da so unsensibel agieren? Mich hat das wütend gemacht.

Durch die Pflegehilfe wurde vieles besser. Trotzdem haben die Pflegehilfen Anrecht auf drei Stunden Pause am Tag. Da war ich bei meiner Mutter, habe sie auf die Toilette begleitet, sie gefüttert. Ich stand immer unter Strom, hatte ständig das Telefon bei mir. Ich habe schlecht geschlafen, die Sorge und permanente Alarmbereitschaft hat sich über mein komplettes Leben gelegt. Nach ein paar Monaten war ich völlig ausgepowert, ich konnte nicht mehr. Mir war klar, dass ich eine Pause brauche, da ich sonst ich vor die Hunde gehe.

Warum Selbstfürsorge wichtig ist

Eine Woche bevor ich deshalb auf eine längere Kur fahren wollte, kam ein Anruf. Meine Mutter hatte einen neuen Aggressionsschub, sie hatte den Pfleger mit Hilfe der Polizei aus ihrer Wohnung geworfen. Als ich ankam, war sie außer Rand und Band, brüllte herum, schubste die beiden Polizisten und drohte, dass sie sich jetzt vom Balkon stürzen würde. Da wusste ich: So kann es nicht weitergehen. Ich habe sie ins Otto-Wagner-Spital einweisen lassen. Dieser Schritt war der schwerste, es handelt sich schließlich um die eigene Mutter. Ich wusste aber: Wenn ich mich jetzt nicht um mich selbst kümmere, in die Selbstfürsorge gehe, kann ich meiner Mutter keine Stütze sein. Durch die Hilfe meiner Lehrtherapeutin und Selbsterfahrungsseminare habe ich gelernt, auch mich selbst zu schützen. Jetzt kann ich helfen.

Das hat alles verändert. Als ich zurückkam, war meine Mutter ein anderer Mensch. Ruhiger. Sanfter. Und auch bei mir war die Anspannung weg, ich hatte Zeit, alles zu verarbeiten. Plötzlich wurde etwas möglich, was jahrelang nicht stattgefunden hatte: Wir haben uns in den Arm genommen. Sie lag angekuschelt bei mir und hat mich gefragt: "Theresa, warum bist du denn traurig?" Ich habe geantwortet: "Mami, ich bin so müde, weil ich mir solche Sorgen um dich mache." Da hat sie meinen Kopf gestreichelt und zu mir gesagt: "Du musst dir keine Sorgen machen, du machst alles richtig. Danke dir." Das war einer der schönsten Momente in meinem Leben. Ich war früher nie eng mit meiner Mutter gewesen, wir hatten immer ein schwieriges Verhältnis gehabt. Die Krankheit hat vieles verändert, sie hat die ursprüngliche Persönlichkeit meiner Mutter hervorgebracht: die einer liebevollen und sensiblen alten Dame. Ich bin ihr jetzt am nächsten, sie braucht mich. Und ich ermögliche es ihr, dass sie ihre Würde behält, auch wenn die Demenz sie ausschleicht. (Protokolliert: Nana Siebert, 26.12.2019)