Ploiești – Lorena kickt den Fußball quer durch den Garten. Immer wieder nimmt die 13-Jährige ihrem kleinen Bruder Octavian den Ball ab, während ihre Füße in roten Plastikschlapfen stecken. Die beiden lachen, wirken fast ausgelassen, als sie gemeinsam mit Hund Bruno herumlaufen.

Für ihr Alter waren ihnen solche Momente bisher viel zu selten vergönnt. Die beiden haben, zumindest temporär, eine neue Familie bekommen. Ihre Eltern können sich um die beiden nicht so kümmern, wie sie sollten. Deshalb wohnen die beiden nun zusammen mit sechs anderen Kindern und drei Betreuerinnen in einer Wohngemeinschaft. Ein Stock für die Mädchen, ein anderer für die Burschen. Sie sind hierhergezogen, in ein kleines Haus in Ploieşti, nachdem sie in einer viel größeren Einrichtung mit 70 anderen Kindern untergebracht gewesen waren. Jetzt haben sie endlich einen eigenen Garten.

Oktavian in einer kurzen Phase des Ballbesitzes.
Foto: vanessa gaigg

Ein Dach ist nicht alles

Dass es so gekommen ist, war nicht selbstverständlich. Es hätte gut sein können, dass sie weiterhin in einer überdimensionierten Einrichtung gewohnt hätten. Oder dass sie zu jenen berüchtigten Straßenkindern Rumäniens gezählt hätten, die, vor allem noch vor einigen Jahren, in Gruppen zu Hunderten in und rund um Bahnhöfe lebten. Auch heute noch leben Kinder und Jugendliche, wenn auch in viel geringerer Anzahl, in Bahnhöfen oder der Kanalisation zwischen Heizungsrohren.

Doch es kam eben anders, und das liegt auch daran, dass die christliche Sozialorganisation Concordia, die sowohl die aktuelle Wohngemeinschaft als auch die vorherige Einrichtung betreute, den Prozess der sogenannten Deinstitutionalisierung ernst nimmt, wie es seitens der Organisation heißt.

Gemeint ist jener EU-weite Prozess, im Zuge dessen große Betreuungseinrichtungen mit bis zu 150 Kindern geschlossen und die zu betreuenden Personen, dar unter auch heimatlose Kinder, in Familien oder familienähnlichen Strukturen wie betreuten Wohngemeinschaften untergebracht werden sollen.

35.000 Kinder sind aktuell bei Adoptivfamilien oder in familienähnlicher Betreuung. 14.000 Kinder waren mit März 2019 noch in staatlichen Heimen. Damit wurde die Zahl deutlich reduziert: 2000 waren es noch 57.000 Kinder, die in Massenunterkünften wohnten.

Für Hund Bruno sind die Kinder gemeinsam zuständig.
Foto: vanessa gaigg

Vegetieren im Kinderheim

Der Staat sei auf die Transformation aber nicht genügend vorbereitet, kritisieren Sozialarbeiter von Concordia. Sie befürchten, dass die Kinder nach der Schließung der großen Heime nicht ausreichend betreut werden – und im schlimmsten Fall (wieder) auf der Straße landen. Das wäre die Wiederholung dessen, was Rumänien eigentlich vor Jahrzehnten hinter sich lassen wollte.

Die Bilder aus den rumänischen Kinderheimen, die nach dem Fall der Ceauşescu-Diktatur an die Öffentlichkeit gelangten, sind noch vielen, die 1989 und die Jahre danach Medien konsumierten, gut in Erinnerung. Sie gingen um die Welt und zeigten die menschenverachtenden Zustände, in denen zehntausende Kinder vor sich hin vegetieren mussten: Inmitten von Exkrementen, nahe am Hungertod, hinter vernagelten Fenstern. Doch statt dass den Kindern eine Per spek tive gegeben worden wä re, landeten Tausende von ihnen auf der Straße. Die meisten schnüffelten Lack oder nahmen andere Drogen.

So wie Daniela, die als Kind von ihrer Mutter beim Triumphbogen in Bukarest ausgesetzt wurde. "Es war, weil ich medizinische Pro bleme hatte", erzählt die heute 40-Jährige. Sie kam in ein staatliches Heim. Der spätere Lebensweg legt Zeugnis über die Betreuung ab, die sie dort erfuhr: Es folgten Jahre auf der Straße, davon drei auf einem Bahnhof. Zweimal war sie verheiratet, ein Ex-Mann infizierte sie mit HIV. Ihre Kinder kamen in staatliche Obhut. Ein Aufenthalt in der Psychiatrie folgte.

Daniela (Mitte) lebt heute in einer betreuten WG.
Foto: vanessa gaigg

Heute lebt Daniela mit fünf anderen Frauen in einer kleinen Wohngemeinschaft in Ploieşti, wo sie vermutlich auch sterben wird. Alle Frauen in dem kleinen Haus leben mit einer Behinderung, alle sind gezeichnet vom Leben auf der Straße und einer Kindheit ohne Fürsorge. Maximal vier Stunden am Tag arbeiten die Frauen. Im Rahmen einer Beschäftigungstherapie häkeln sie Fingerpuppen.

"Die meisten, die damals in Kinderheimen waren, sind Analphabeten. Alle sind marginalisiert", sagt der Sozialarbeiter Costin Nedelcu, der Daniela heute betreut. "Sie wurden dort geschlagen, es waren schlimme Zustände." Viele flüchteten dann in baufällige Ruinen oder eben auf Bahnhöfe. Mit Geld umzugehen, hat ihnen nie jemand beigebracht.

Weiter Weg

Seither hat Rumänien laut Unicef einen weiten Weg beschritten. Viele große Heime wurden geschlossen, der von der EU vorgegebene Weg der Deinstitutionalisierung zumindest eingeschlagen. Nicht immer liege es laut Unicef daran, dass die Eltern ihre Kinder nicht wollten: Oft würde es zur Trennung kommen, weil die Eltern sich das Leben mit den Kindern schlicht nicht mehr leisten könnten. Sie würden dann denken, dass es den Kindern immer noch besser gehe, wenn sie ein Dach über dem Kopf und eine Mahlzeit in einem Heim hätten. Jedes zweite Kind in Rumänien lebt in Armut.

Das Zuhause von Lorena und Oktavian.
Foto: vanessa gaigg

Lorenas Start ins Leben verlief ähnlich wie der von Daniela. Doch das Leben der 13-Jährigen soll anders weitergehen. Sie hat vorerst sowohl die Welt voller Armut als auch ein Leben mit dutzenden anderen entwurzelten Kindern auf engstem Raum hinter sich gelassen. Jetzt kann sie nicht nur Schulkollegen einladen, sondern auch Geburtstagspartys veranstalten.

Vielleicht kann sie eines Tages mit ihrem Bruder Octavian wieder zurück in eine normale Familie. Wenn nicht, wird sie vermutlich in dem kleinen Haus mit Garten bleiben, bis sie ihren Schulabschluss macht. Ob sie weiß, was sie einmal werden möchte? "Masseurin", sagt die 13-Jährige. "Sie hat eine goldene Hand", sagt eine Betreuerin, und in Lorenas Gesicht weicht die teenagerhafte Coolness einem Anflug von Stolz. In dem kleinen Haus mit Garten kann Lorena nun Pläne machen. (Vanessa Gaigg aus Ploiești, 8.1.2020)