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Jedes Jahr wird der Fluchtweg des Jahres 1995 im Friedensmarsch begangen. Muhamed Duraković organisiert ihn.

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Sie unternahmen einen Fluchtversuch, um ihren potenziellen Mördern zu entkommen. Muhamed Duraković gehörte zu jenen Bewohnern von Srebrenica, die sich am 11. Juli 1995, nachdem die Armee der Republika Srpska unter Ratko Mladić die Stadt eingenommen hatte, auf den etwa 110 Kilometer langen Weg machten, um in sichere Zonen zu gelangen. Viele Menschen wurden auf dieser Flucht von den Einheiten Mladićs ermordet, andere wurden wahnsinnig vor Angst.

Duraković und andere Überlebende hatten später den Wunsch, diesen Fluchtweg noch einmal zu gehen. Mittlerweile nehmen jedes Jahr im Juli Tausende an diesem "Friedensmarsch" teil.

Bosnien sei jahrhundertelang ein Beispiel für eine tolerante, multikulturelle Gesellschaft gewesen, meint Duraković. "Diese Lebensweise wurde von jenen angegriffen, die dachten, sie könnten die Zeit zurückdrehen und die Weiterentwicklung unserer Gesellschaften verhindern. Die Massengewalt, die in Bosnien stattgefunden hat, sollte allen Nationen als Warnung dienen. Wir sollten unsere Unterschiede annehmen und unsere Gesellschaften auf die kommenden Jahrhunderte vorbereiten", sagt er dem STANDARD.

Denn künftige Generationen würden in einer komplexeren Welt leben als heute, in der sich Menschen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Herkunft begegnen und unterschiedliche Weltanschauungen teilen. Was heute im Diskurs fehle, sei die Erkenntnis, dass eine Politik der Spaltung und Entmenschlichung auf einen Weg zur Hölle auf Erden, zum nächsten Völkermord, führe.

Negative Auswirkungen

Duraković meint, dass sich die Verleihung des Literaturnobelpreises an den Milošević-Sympathisanten Peter Handke negativ auf die Bemühungen auswirken wird, an den Völkermord und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu erinnern, die von serbischen Streitkräften in Bosnien- Herzegowina, aber auch im Kosovo und in Kroatien begangen wurden. "Der Preis und die anschließende Debatte sind ein schwerer Schlag für die Opferverbände in Bosnien, im Kosovo und in Kroatien gewesen. Der Nobelpreis hat unsere Bemühungen um Versöhnung und dauerhaften Frieden beschädigt, indem er das Verwischen von Tatsachen und Nichttatsachen legitimierte", sagt Duraković.

"Es ist natürlich traurig, dass selbst Gerichtsentscheidungen des UN-Kriegsverbrechertribunals, die auf harten wissenschaftlichen Beweisen beruhen – DNA-Analysen aus den Massengräbern in Bosnien – nicht überzeugend genug sind, um Leugner wie Handke zu belehren", sagt er weiter. Während sich Handke als Privatmann entscheiden könne, Fakten zu ignorieren, müssten jedoch die Nobelstiftung und die Schwedische Akademie einem höheren Maß an moralischer Verantwortung gerecht werden. "Unsere Arbeit ist erst beendet, wenn jeder Mensch, der diesen Namen verdient, die Bedeutung der Wahrheitsfindung versteht", sagt er.

Entmenschlichung erkennen

Es gäbe viele Möglichkeiten, wie das Wissen über die Massengewalt vermittelt werden könne: durch Kunst, Bildung oder Massenmedien. In den vergangenen 25 Jahren hat Duraković selbst viele Vorträge gehalten und hunderte Studenten unterrichtet. "Es ist nicht notwendig, ein professioneller Wissenschafter zu sein, um zu erkennen, wie eine Gruppe von Menschen diskriminiert und systematisch entmenschlicht wird. Alles beginnt mit kleinen Schritten." Deshalb solle jeder Teil des Präventionssystems sein. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 10.12.2019)