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Proteste gegen die Pensionsreform in Marseille.

Foto: REUTERS/Jean-Paul Pelissier

Zehntausende demonstrierten am Dienstag erneut gegen eine Pensionsreform – obwohl die überhaupt erst am Mittwoch präsentiert wird. Der Hauptpunkt ist indessen bekannt: Die Vorzugspensionen von 42 Berufsgruppen sollen in die allgemeine Rentenkasse überführt werden. Das wichtigste dieser "régimes spéciaux" betrifft die Eisenbahner. Ihre massive Mobilisierung erklärt sich durch den Verlust zweier "historischer" Vorrechte:

  • Das Pensionsalter: Lokführer gehen mit 52, Kontrolleure ab 57 Jahren in Pension. Zum Vergleich: Das Pensionsalter liegt in Frankreich bei 62 Jahren.
  • Die Pensionshöhe: Sie liegt bei der französischen Bahn SNCF im Schnitt bei 2.636 Euro im Monat, gegenüber 1.472 Euro für die übrigen Franzosen. Letztere zahlen auch noch mit ihren Steuern zusätzlich mehr als die Hälfte der SNCF-Pensionen, indem sie deren Jahresdefizit von 3,3 Milliarden Euro stopfen. Die Eisenbahner schaffen dies längst nicht mehr aus eigener Kraft: Wegen ihrer frühen Pensionierung zahlen heute nur noch 140.000 Aktive Pensionsbeiträge – bei 258.000 Bahnrentnern.

Ein wichtiger Grund für die vergleichsweise hohen SNCF-Pensionen ist die unterschiedliche Berechnungsweise: Ausschlaggebend sind die letzten sechs Monate vor der Pensionierung. Häufig werden die Betroffenen in dieser Zeit aus purer Gefälligkeit noch kurz befördert, was ihre Pension massiv erhöht. In der Privatwirtschaft werden die Pensionen hingegen aufgrund der 25 besten (meist letzten) Jahre berechnet.

Diese gewaltige Diskrepanz will Macron nun mit einem in Europa verbreiteten Punktesystem aus der Welt schaffen. Alle Pensionierten sollen für jeden einbezahlten Euro den gleichen, von der Regierung festzulegenden Gegenwert erhalten. Die Nutznießer der "régimes spéciaux", zu denen neben den Eisenbahnern auch Beamte, Lehrer, Elektrizitäts- und Spitalangestellte sowie Anwälte, Matrosen und Operntänzerinnen gehören, sind vehement dagegen. Denn sie haben dabei am meisten zu verlieren. Die Lehrer behaupten, ihr Verlust könne bis zu 700 Euro im Monat erreichen. Die Regierung verspricht dagegen vollständige Kompensation.

Indirekte Nachteile

Wie so oft in Frankreich, lehnen in den Umfragen auch viele Bezieher normaler Pensionen die Reform ab. Sie befürchten indirekte Nachteile. Denn auch sie, die gegenüber den Eisenbahnern und Beamten pensionsmäßig stark benachteiligt sind, stehen letztlich gut da – nämlich im europäischen Vergleich:

Sowohl ihr gesetzliches (62) wie auch ihr reales Pensionsalter (61,4) liegt mehrere Jahre unter dem europäischen Schnitt. Die Pensionen hingegen liegen in Frankreich deutlich darüber: Sie betragen 71 Prozent des früheren Einkommens, bei 50 Prozent zum Beispiel in Deutschland.

Dank ihren zusätzlichen Einkünften verfügen die französischen Pensionisten sogar über 3,2 Prozent mehr Geld als während ihrer Arbeitsphase; die übrigen Europäer müssen mit teilweise viel weniger auskommen.

Verluste für Mehrheit

Frankreich wendet seit jeher mehr als seine Nachbarn, nämlich 14 Prozent seines Bruttosozialproduktes, für das (ausschließlich staatliche) Umlagesystem auf. Das geht aber mehr und mehr ins Geld: Nach ihrer Pensionierung leben die Franzosen noch 22,7 Jahre, fast fünf Jahre länger als im OECD-Schnitt.

All diese Zahlen weichen je nach Statistik voneinander ab. Der Befund bleibt gleich: Die Mehrheit der Französinnen und Franzosen würde in der Reform finanziell verlieren. Es sei denn, das Pensionsalter 62 wird angehoben – doch das hat Macron ausgeschlossen.

Zahlreiche Verlierer

Der Präsident beteuert auch, dass die Pensionen in dem neuen Punktesystem nicht sinken würden. Die Gewerkschaften stellen das rundum in Abrede: Ihrer Meinung nach wird die Lebensarbeitszeit für eine volle Pension über kurz oder lang erhöht werden. Experten glauben, dass die Reform neben wenigen Gewinnern – etwa den Bauern – zahlreiche Verlierer schaffen wird: Kleinbeamte, berufstätige Frauen und Familien mit mehreren Kindern.

Das wirft die Frage der sozialen Gerechtigkeit auf. Die Macronistin Célia de Lavergne meinte am Montag, die "privilegierten" Pensionen seien im Vergleich zu den normalen noch viel ungerechter – doch darüber hielten sich die Gewerkschaften seltsamerweise nicht auf.

Letztere entgegnen, die Reform führe generell zu einer "Nivellierung nach unten". Die Pensionen nach oben an die SNCF-Pensionen anzupassen würde das System allerdings vollends aus den Fugen heben. Ohne Reform würde das Pensionsdefizit Frankreichs bis 2025 über 17 Milliarden Euro erreichen.

Wegen der Streiks kam es auch am Mittwoch wieder zu massiven Verkehrsbehinderungen. (Stefan Brändle aus Paris, 10.12.2019)