Vor genau zwei Jahren flog ÖVP-Chef Sebastian Kurz nach Brüssel zu Jean-Claude Juncker. Die türkis-blaue Regierung war noch nicht angelobt, aber dem Sieger der Nationalratswahl zwei Monate davor konnte es nicht schnell genug gehen: Kurz wollte sich vom Präsidenten der EU-Kommission persönlich ein Gütesiegel abholen, wonach die Vorhaben seiner künftigen Koalition "proeuropäisch" seien. Juncker bestätigte das.

Die Blitzaktion hatte vor allem einen Zweck: den Partnern zu zeigen, dass die EU-skeptische FPÖ den von ÖVP und SPÖ geprägten Integrationskurs Österreichs nicht irritieren werde – was sich als schwerer Irrtum erwies.

Mitte Dezember 2019 sieht die kleine österreichische Welt, in der die große (europäische) Welt ihre Probe hält, wie der deutsche Dichter Friedrich Hebbel einst schrieb, ganz anders aus.

ÖVP-Chef Sebastian Kurz macht – zumindest öffentlich – keine Anstalten, der Bevölkerung klar zu sagen, wohin die Reise mit ihm gehen sol.
Foto: Christian Fischer

Am 1. Jänner könnte das Land den 25. Jahrestag des EU-Beitritts 1995 feiern. Es könnte sich dabei vergewissern, wie sehr uns die Umbrüche verändert haben, in der Gesamtbilanz positiv. Wer sich in diesen Tagen im Land bewegt, kann aber nur staunen. Das gemeinsame Europa als Leitbild der Nation? Fehlanzeige.

Nichts. Stillstand. Keine Debatte. Kaum Inhalte, fast nur Skandale. Davon, wie sich eine kleine exportorientierte Nation in einer EU positionieren will, die mit dem Brexit vor dem größten Umbau seit Jahrzehnten steht, ist kaum wo die Rede. Das Land ist politisch gelähmt. Parteien, die gemäß Verfassung das Gerüst der parlamentarischen Demokratie sind, sind mit sich selbst beschäftigt. Es ist auch kein Zufall, wenn Kanzlerin Brigitte Bierlein im Standard-Interview festhält, dass ihr Kabinett vor allem zum Verwalten und nicht zum politischen Gestalten da sei, dies jedoch kein Dauerzustand werden dürfe.

Umbau der EU

Aber der Ende September noch eindeutiger als 2017 bestätigte Wahlsieger Kurz, der wieder den Kanzleranspruch stellt, macht – zumindest öffentlich – keine Anstalten, der Bevölkerung klar zu sagen, wohin die Reise mit ihm gehen soll: nicht bloß innenpolitisch, sondern vor allem in der Europäischen Union. Eine Klärung wäre dringlich. Der Umbau der EU läuft an. Die Briten entscheiden am Donnerstag über den EU-Austritt der zweitgrößten Volkswirtschaft der Union. Beim EU-Gipfel diese Woche wird die neue Klimastrategie festgelegt und ein Reformprozess angestoßen, wie die EU-27 nach dem Abgang der Briten 2020 weitermachen sollen.

Grund genug für Politiker mit Führungsanspruch, die großen Leitlinien ihrer Politik für ihr Land vorzutragen, jenseits von parteipolitischen Interessen, abseits von Machttaktik. Wer immer in Wien regiert, eines sollte außer Streit stehen: Österreich verstand sich bisher als ein EU-Mitgliedsland, das ins Zentrum der Union gehört, das das gemeinsame Europa stärken und nicht schwächen will. An der Beantwortung solcher Fragen zeigt sich, ob jemand wirklich das Zeug zum Leader über den Tag hinaus hat, wie zuletzt Präsidentin Ursula von der Leyen. Oder ob er oder sie sich am Ende doch als Leichtgewicht erweist.

Je rascher ÖVP-Chef Kurz und sein Verhandlungspartner, der grüne Parteichef Werner Kogler, sich aufraffen zu sagen, wo es langgeht, desto besser. Das Stillschweigeabkommen zu Details der Koalitionsgespräche mag taktisch und machttechnisch begründbar sein. Aber die Bevölkerung will bald mal wissen, ob sie gute Aussichten für die Zukunft hat. Die liegt in Europa, nicht im politischen Kleinkram. (Thomas Mayer, 10.12.2019)