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Hinterbliebene eines in Afghanistan gefallenen US-Soldaten.

Foto: AP / Steve Griffin

Sechs Jahre lang, bis 2013, war Douglas Lute als Sonderbeauftragter im Weißen Haus für den Krieg in Afghanistan zuständig. Als er regierungsintern nach Lehren gefragt wurde, wurde er deutlich. "Uns fehlte ein grundsätzliches Verständnis für Afghanistan. Wir wussten nicht, was wir taten", zog der Dreisternegeneral ernüchtert Bilanz. "Was versuchen wir dort zu erreichen? Wir hatten nicht die leiseste Ahnung, worauf wir uns eingelassen hatten."

Lute ist einer von über vierhundert Experten, die seit 2014 hinter verschlossenen Türen zu Protokoll gaben, was sie vom Einsatz am Hindukusch hielten – Soldaten, Diplomaten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. "Lessons Learned" hieß das Projekt: In der Annahme, die Truppen würden noch unter dem Präsidenten Barack Obama vollständig abgezogen, wollte das Büro des Generalinspekteurs für den afghanischen Wiederaufbau Bilanz ziehen. Fehler auflisten, Lektionen formulieren. Nach dreijährigem Rechtsstreit hat die "Washington Post" nun die Freigabe der mehr als zweitausend Seiten erzwungen. Manche vergleichen sie mit den Pentagon Papers, der schonungslos offenen Analyse des Vietnamkriegs, die 1971 von dem Whistleblower Daniel Ellsberg der Presse zugespielt wurde.

Die Afghanistan Papers zeichnen das Bild einer Intervention, die schon bald jeden realistischen Ansatz vermissen ließ. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 war es noch darum gegangen, das Terrornetzwerk Al-Kaida seiner logistischen Basis zu berauben und die Taliban, Gastgeber Osama bin Ladens, von der Macht zu vertreiben. In dem Maße aber, wie sich das Kabinett George W. Bushs auf den angepeilten Feldzug im Irak konzentrierte, wurde Afghanistan zum Nebenschauplatz. Welches Ziel man verfolgte, verschwamm schon deshalb im Nebel, weil es zu viele Ziele gab, an denen man sich orientierte.

Fragmentierte Zielsetzung

Die einen, fasst es die Washington Post zusammen, wollten das Land in eine Demokratie nach westlichem Vorbild verwandeln, andere die Frauenrechte fördern, wieder andere die regionale Machtbalance zwischen Staaten wie Pakistan, Indien, Iran und Russland neu justieren. Irgendwann habe "für jeden ein Geschenk unterm Tannenbaum gelegen", sagte ein namentlich nicht genannter Regierungsbeamter. Von Strategie keine Rede mehr.

Ein Diplomat, ebenfalls anonym, sprach von einem zum Scheitern verurteilten Versuch, eine starke Zentralregierung in Kabul zu etablieren. "Das war idiotisch, denn Afghanistan kennt die Tradition einer starken Zentralregierung nicht." Man würde hundert Jahre brauchen, um eine solche zu schaffen – "so viel Zeit haben wir nicht". Ein Mitarbeiter des Außenministeriums, in die Provinz Helmand, einer Hochburg der Taliban beordert, um der Marine-Infanterie zur Seite zu stehen, benannte ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg gibt.

"Die Afghanen wussten, dass wir nicht auf Dauer im Land sein würden. Das hat eingeschränkt, was wir tun konnten." Wer Freund und wer Feind war, ließ sich angesichts komplizierter Strukturen nie eindeutig bestimmen, berichtete der Berater eines US-Spezialkommandos. Die Soldaten "dachten, ich käme mit einer Landkarte, die zeigte, wo die ‚Good Guys‘ und wo die ‚Bad Guys‘ sind. Solche Informationen gab es nicht."

Triste Realität

Drei Präsidenten in Folge, Bush, Obama und Trump, hat die triste Realität nicht daran gehindert, in der Öffentlichkeit von Fortschritten zu reden, in Donald Trumps Diktion sogar von enormen Fortschritten. Um die rosarote Einschätzung zu untermauern, etwa nach einer Truppenaufstockung im Jahr 2009, habe das Weiße Haus verlangt, dazu passende Daten zu liefern, sagte ein Beamter des Nationalen Sicherheitsrats in Washington. "Die Daten wurden immer manipuliert, für die gesamte Dauer des Krieges."

Auch die Hilfsgelder waren den Schilderungen nach ein Kapitel opulenter Verschwendung. Während der Militäreinsatz die USA bis dato eine Billion Dollar kostete, gab das Land 133 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau aus. Davon sei allerdings "nur ein winziger Prozentsatz" bei den Menschen angekommen, bilanzierte Robert Finn, nach dem Sieg über die Taliban der erste US-Botschafter in Kabul. Das Gros des Geldes sei verwendet worden, um lokale Milizen und die Polizei zu trainieren. Ryan Crocker, ebenfalls Ex-Botschafter, beklagte die massive Korruption, begünstigt durch die vielen Milliarden, die man traurigerweise vielleicht "unser größtes Projekt" nennen könnte. "Unabsichtlich, versteht sich." (Frank Herrmnann aus Washington, 10.12.2019)