Sebastian Dullien leitet das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf.

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Dullien fordert schuldenfinanzierte Investitionen, um die Abwanderung von Schlüsselbranchen aus Europa zu verhindern.

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Die erste Frage beantwortet Sebastian Dullien, ohne dass sie gestellt werden muss. Mit einem langen "ie" spricht der großgewachsene Ökonom und Sozialdemokrat seinen Nachnamen aus, als er sich vorstellt. Worum es im Interview gehen soll, erkundigt er sich; vermutlich eine rhetorische Frage. Denn der Leiter des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf war selbst lange Zeit Wirtschaftsredakteur und kann sich wohl vorstellen, dass der STANDARD ...

STANDARD: ... über Industriepolitik sprechen will. Sie fordern umfangreiche staatliche Unterstützung für die europäische Industrie. Warum?

Dullien: Weil es langfristig darum geht, dass Schlüsselbranchen in Europa bleiben. Bestimmte Industrien sind für eine Volkswirtschaft besonders wichtig. Die Wertschöpfungsketten gehen tief, und über sie verbreitet sich technischer Fortschritt. Wer Marktführer ist, kann seine Ware zu einem höheren Preis am Weltmarkt verkaufen. Wo Schlüsselbranchen sind, sind auch höhere Einkommen. Das bedeutet, dass es insgesamt mehr zu verteilen gibt.

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Der Maschinenbau hätte sich in Deutschland ohne Automobilindustrie nie so entwickelt, glaubt Sebastian Dullien.
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STANDARD: Weltmarktführer ist aber, wer innovativ ist, und nicht, wer vom Staat am Leben gehalten wird.

Dullien: Ich wünsche mir ja auch nicht, dass der Staat Unternehmen vor dem Wettbewerb schützt. Es geht darum, Unternehmen zu helfen, innovativ zu sein, neue Schlüsseltechnologien zu entwickeln und zur Marktreife zu bringen. Die deutsche und teilweise auch die österreichische Wirtschaft stehen vor drei großen Herausforderungen: Dekarbonisierung, Digitalisierung und Demografie. Der Industriestruktur steht ein Umbruch bevor. Wer diesen am besten bewältigt, wird die Schlüsselindustrien der Zukunft stellen.

STANDARD: In Deutschland ist heute die Automobilindustrie die Schlüsselbranche.

Dullien: Richtig. Und auch Chemie und Maschinenbau hätten sich in Deutschland ohne Automobilbranche nie so entwickelt. Gerade die steht jetzt vor massiven Herausforderungen durch die Dekarbonisierung. Der Verbrennungsmotor, wie wir ihn heute kennen, wird in 30 Jahren Geschichte sein. Wenn der Staat den freien Markt entscheiden lässt, wer diesen Wandel am besten meistert, steht er am Ende womöglich ohne Schlüsselbranchen da. Player wie China tun zum Beispiel alles, um solche Branchen zu attrahieren.

STANDARD: So viel zur Diagnose der Herausforderung und zur politischen Zielvorgabe. Welche Mittel stehen dem Staat zur Verfügung? Sie sind ja gegen gezielte Subventionen.

Dullien: Es geht weniger um konkrete Einzelmaßnahmen als um Maßnahmenpakete. Zuerst muss man sich überlegen, was die Technologien der Zukunft sind. Dann muss man sie so fördern, dass gleichzeitig der Wettbewerb erhalten bleibt. Subventionen kann man für eine gewisse Zeit zahlen, man muss sie aber verlässlich wieder abbauen, damit Unternehmen nicht davon abhängen.

STANDARD: Bleiben wir bei der deutschen Automobilindustrie. Was kann der Staat konkret tun, damit diese Weltmarktführer bleibt?

Dullien: E-Autos sind ein gutes Beispiel für einen Netzwerkeffekt. Gibt es keine Ladeinfrastruktur, kauft keiner ein E-Auto. Gibt es keine E-Autos, baut niemand die notwendige Ladeinfrastruktur. Die notwendigen Investitionen sind zu groß, der Privatsektor wird das Risiko allein nicht schultern. Vor allem dann, wenn die Richtung noch nicht klar ist. Vieles deutet darauf hin, dass sich unter den umweltschonenden Antrieben der Elektromotor durchsetzen wird. Aber die Politik könnte auch helfen, indem sie einen verlässlichen Plan dafür vorgibt, in welchem Zeithorizont sich der Übergang zur E-Mobilität abspielen wird. Zum Beispiel könnte sie bestimmen, dass der öffentliche Sektor ab 2025 nur noch in Europa hergestellte Elektroautos anschafft. Das wäre einerseits WTO-kompatibel und gäbe andererseits europäischen Herstellern Zeit, sich darauf vorzubereiten.

Der öffentliche Sektor habe einige Hebel, die europäische Industrie zu fördern, erklärt Sebastian Dullien.
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STANDARD: Der Staat ist nur einer von vielen Nachfragern von Pkws. Ist der öffentliche Sektor groß genug, um den Innovationsdruck zu erhöhen?

Dullien: Richtig, der Großteil der Nachfrage ist privat. Der öffentliche Sektor ist nicht entscheidend, aber groß genug, um Anreize zu setzen. Und er hat andere Hebel, zum Beispiel bei der Steuerpolitik. Mehr als die Hälfte aller neu zugelassenen Pkws in Deutschland sind Dienstwagen. Der Staat könnte – und ich glaube, er tut es in Deutschland auch schon – elektrische Dienstwagen steuerlich begünstigen. Aber das Timing ist wichtig. Wenn die europäische Industrie keine Zeit bekommt, sich vorzubereiten, führen solche Maßnahmen womöglich ins Leere. Wenn die Industrie in Europa noch nicht so weit ist, muss der öffentliche Sektor schlechte oder teure Autos kaufen.

STANDARD: Der öffentliche Sektor sollte grundsätzlich mehr investieren, haben Sie zuletzt gefordert. Deutschland brauche 450 Milliarden an Zusatzinvestitionen. Ist das mit der Schuldenbremse vereinbar?

Dullien: Die schwarze Null, und das schreibt sogar der ökonomische Sachverständigenrat, hat keinerlei ökonomische Fundierung. Und auch die Schuldenbremse ist zu eng gefasst. Als darüber nachgedacht wurde, lagen die Zinsen für deutsche Anleihen irgendwo bei vier Prozent, heute sind sie im negativen Bereich. Eine ökonomische Regel sollte auf den Preis Rücksicht nehmen. Die makroökonomische Konstellation ist gerade so, dass man den Investitionsbedarf mit Neuverschuldung decken könnte.

Der Zugang zu Breitbandinternet ist heutzutage ein wichtiger Standortfaktor.
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STANDARD: Auch die Arbeitgeberseite fordert Investitionen.

Dullien: Wir haben die Zahlen gemeinsam mit dem arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft errechnet. Zwei Drittel der deutschen Betriebe geben an, dass sie durch Mängel in der Infrastruktur in ihrer Geschäftstätigkeit behindert sind. In Österreich ist das anders. Aber in Deutschland gab es Jahrzehnte der Unterinvestitionen. Allein bei kommunaler Infrastruktur gibt es einen Nachholbedarf von 140 Milliarden Euro.

STANDARD: Was genau sollen die Investitionen bewirken?

Dullien: Es geht nicht um einen schnellen Investitionsschub. Das Geld sollte über zehn Jahre ausgegeben werden, Unternehmen müssen die Möglichkeit bekommen, Kapazitäten aufzubauen. Zum Beispiel die Bauwirtschaft ist heute schon ziemlich ausgelastet. Fakt ist aber, dass die Renditen von Privatinvestitionen steigen, wenn der Staat Geld in die Infrastruktur steckt. Bei den niedrigen Zinsen und der hohen fiskalischen Rendite vieler Infrastrukturprojekte würde die Schuldentragfähigkeit des Staates mittelfristig steigen. (Aloysius Widmann, 6.1.2020)