In einem offenen Brief wenden sich Wissenschafterinnen und Wissenschafter, Autorinnen und Autoren an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, "die Zusammenarbeit und finanzielle Unterstützung von türkischen Organisationen einzustellen, die ihre Aufgabe darin sehen, Bürgerinnen und Bürger Europas, die sich öffentlich und kritisch mit der türkischen Regierungspolitik und politisch-islamischen Strömungen in Europa beschäftigen, in regelmäßigen Denunziationsberichten öffentlich anzuprangern". Konkretes Beispiel: der jüngst erschienene, von den Politikwissenschaftern Farid Hafez und Enes Bayraklı herausgegebene "European Islamophobia Report 2018", der laut Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern von der Europäischen Kommission mit 126.951,81 Euro aus dem Fonds zur "Unterstützung des zivilgesellschaftlichen Dialogs zwischen der EU und der Türkei" finanziert wird und der regierungsnahen Seta-Stiftung nahestehen soll. Die EU habe die "Kontrolle aus der Hand gegeben". Der Brief in Auszügen:

Der European Islamophobia Report 2018 liefert ein gutes Exempel dafür, warum die Vergabe dieser Mittel dringend überdacht und Förderkriterien entwickelt werden müssen, die eine Zweckentfremdung von EU-Geldern durch die Türkei in Zukunft verhindern. Eine Unterstützung von Seta-Studien durch die Europäische Kommission ist aus mehreren Gründen unangebracht:

1. Die Seta-Stiftung ist ein politisches Instrument der türkischen Regierung Sie dient nicht dem zivilgesellschaftlichen Dialog zwischen der EU und der Türkei, sondern der Verlautbarung der Regierungslinie (siehe die Kriegspropaganda von Seta auf Social-Media-Kanälen im Rahmen des Einmarschs der türkischen Armee in Nordsyrien) und der Identifizierung und öffentlichen Diffamierung von Gegnern des türkischen Präsidenten Erdoğan, der AKP und der türkischen Regierungspolitik.

Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan.
Foto: EPA/TOLGA BOZOGLU

Der Gründungsdirektor der Seta-Stiftung, der Theologe Ibrahim Kalın, ist der heutige Sprecher von Erdoğan. Der europäischen Öffentlichkeit fiel er bereits 2012 durch seine Rede auf dem Istanbuler Weltforum auf, in der er die Entmachtung des Westens und eine "postsäkulare Ordnung" ebendort ankündigte.

Setas Publikationen sprechen eine deutliche Sprache. So erschien 2018 eine "Studie" mit dem Titel "Die Struktur der PKK in Europa", in der namentlich europäische Politikerinnen und Politiker, Journalistinnen und Journalisten, Künstlerinnen und Künstler und Wissenschafterinnen und Wissenschafter als Sympathisanten und Unterstützer der PKK aufgezählt werden. Dafür reichte es mitunter aus, dass sie Kritik an der türkischen Politik in den Kurdengebieten geäußert hatten. Ähnlich verfährt 2019 eine Studie mit dem Titel "Die Fethullahistische Terrororganisation (Fetö) in Deutschland". Im Seta-Bericht "Der verlängerte Arm internationaler Medienorganisationen in der Türkei" wiederum werden Namen und Lebensläufe von 143 türkischen Journalistinnen und Journalisten gelistet, die für internationale Medienhäuser wie etwa Deutsche Welle, "FAZ" oder BBC arbeiten. Ihnen wird vorgeworfen, regierungsfeindlich zu berichten. Die deutsche Kulturstaatsministerin Monika Grütters protestierte gegen diesen Bericht.

2. Der European Islamophobia Report reiht sich in die Denunziationsberichte von Seta ein Im Report werden undifferenziert viele Persönlichkeiten und Institutionen aus ganz Europa als "islamophob" und als Vertreter und Beförderer von sogenanntem "antimuslimischem Rassismus" bezeichnet, ein Begriff, der synonym zum Begriff "Islamophobie" verwendet wird. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieses Briefes werden im Report in eine Reihe mit Rechtsradikalen, Rassisten und deren Netzwerken gestellt. Alle im Report Gelisteten, unter ihnen auch Musliminnen und Muslime, die andere Wege als die meisten Islamverbände gehen wollen, seien, so die Ansicht der Herausgeber, Teil des weltweiten "islamophoben" Diskurses. So wundert es auch nicht, dass die Herausgeber des European Islamophobia Report auch ein Buch über Islamophobie in islamischen Gesellschaften publiziert haben. Dieses Vorgehen dient dem Zweck, jegliche Kritik am Islam, an verschiedenen politisch-islamischen Organisationen und deren Proponenten aus dem Diskurs zu drängen und die Deutungshoheit über diese Themen zu erlangen.

Angesichts des Mobilisierungspotenzials türkisch-nationalistischer und islamistischer Kreise stellen die Berichte der Seta-Stiftung eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die darin genannten Personen dar.

3. Der European Islamophobia Report ist keine wissenschaftliche Publikation Wir möchten mit Nachdruck darauf hinweisen, dass dieser "Bericht" keinerlei wissenschaftlichen Standards entspricht. Der European Islamophobia Report ist weder eine quantitative noch eine qualitative Studie; zu einer Studie fehlen ihm die wesentlichen Kriterien und Voraussetzungen, die eine solche auszeichnen. Die Herausgeber haben sich an keiner Stelle die Mühe gemacht, die von ihnen angewandten Methoden zu erläutern oder die Kriterien zu beschreiben, anhand derer die von ihnen geschilderten "Fälle" ausgewählt wurden.

Mit dem Begriff "Islamophobie" wird versucht, zwei unterschiedliche Phänomene in einem Begriff zusammenzufassen: Feindschaft gegenüber und Diskriminierung von Muslimen auf der einen Seite und Religionskritik auf der anderen. Der Terminus differenziert nicht zwischen ressentimentbeladener Hetze und der Aufklärung verpflichteter Kritik an der Religion. Er entpuppt sich somit als Kampfbegriff, der dazu genutzt wird, Kritik am Islam, an politisch-islamischen Strömungen, einzelnen Organisationen und Akteuren oder an Problemen und Menschenrechtsverletzungen innerhalb muslimischer Gemeinschaften und Gesellschaften abzuwehren und als "antimuslimischen Rassismus" zu etikettieren. Dies führt dazu, dass kritische Geister, auch und gerade innerhalb der muslimischen Welt, als "islamophob" denunziert und in die gleiche Ecke gestellt werden wie Rechtspopulisten, Rechtsradikale und Rassisten.

4. Demokratiepolitisch gefährlich Das Ziel des Islamophobia-Reports ist es, jede kritische öffentliche Beschäftigung mit dem Islam und islamistischen Strömungen hintanzuhalten, zu verhindern oder jedenfalls zu diskreditieren. Damit aber wird das Recht auf freie Meinungsäußerung und Gedankenfreiheit in Europa ernsthaft infrage gestellt. Selbst die öffentliche Auseinandersetzung mit dem politischen Islam der Muslimbruderschaft und anderer radikaler Strömungen soll, geht es nach den Herausgebern des European Islamophobia Report, unterbunden werden. Ihnen geht es nicht um eine offene demokratische Debatte, sondern um die Verhinderung derselben. Wir vermuten, dass die Herausgeber des European Islamophobia Report langfristig das Ziel verfolgen, die Gesetzgebung der EU und ihrer Mitgliedsstaaten mithilfe einer sich als NGO gerierenden türkischen regierungsnahen Stiftung dahingehend zu beeinflussen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit dem politischen Islam verunmöglicht wird. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner weisen diesen Versuch der Zensur zurück.

Sehr geehrte Kommissionspräsidentin, wir bitten Sie, dafür Sorge zu tragen, dass die EU respektive die Europäische Kommission in Zukunft keine finanzielle Unterstützung für den European Islamophobia Report mehr gewährt und dass die Instrumentalisierung eines Fonds, der eigentlich der "Unterstützung des zivilgesellschaftlichen Dialogs zwischen der EU und der Türkei" dienen soll, durch die türkische Regierung und die ihr nahestehende Seta-Stiftung in Zukunft verhindert wird. (Seyran Ateş, Kamel Daoud, Kenan Güngör, Heiko Heinisch, Necla Kelek, Mouhanad Khorchide, Ahmad Mansour, Saïda Keller-Messahli, Zana Ramadani, Nina Scholz, Susanne Schröter, Gerhard Weinberger, Susanne Wiesinger, 11.12.2019)