Bild nicht mehr verfügbar.

Schwäbisch und gründlich: Alfred Kirchner machte im Windschatten von Claus Peymann und Co eine beachtliche Karriere als Schauspiel- und vor allem Opernregisseur.

Foto: Fuchs/picturedesk.com

Um ein Haar hätte der nachmalige Regisseur Alfred Kirchner gar nie eine Theaterbühne zu Gesicht bekommen. In den Märztagen 1945 querten alliierte Bomberflotten die Schwäbische Alb. Als der siebenjährige Alfred daheim saß, um mit den Postkartenporträts von Kriegshelden zu spielen, fing das Kirchner’sche Wohnhaus wie besessen "zu tanzen und zu springen" an. Haus und Familie überstehen das Bombardement von Göppingen. Nur die kleine Schwester Alfreds wird fortan kein Wort mehr sprechen.

Kirchner wird sich seine Frohnatur bewahren. Er ernennt sich selbst zum Wiedergänger einer kleinen Märklin-Figur und heißt fortan der "Mann von Pölarölara".

Das unscheinbare Spielzeugmännchen benutzte er wie ein Bremsklötzchen. Mit ihm kann man Spielzeugeisenbahnen zum Entgleisen bringen. Hindernisse pflegt Kirchner auch später zu verlachen. Kirchner wird nie zum Helden taugen. Aber er ist ein Listenreicher, der Widerstrebende mit sanftem Nachdruck zu ihrem Glück zwingt. Als er 1988 in Amsterdam gemeinsam mit Nikolaus Harnoncourt Don Giovanni inszeniert, maßregelt er den Papst des Originalklangs unerschrocken: "Wenn du diese Arie so langsam dirigierst, kann ich einen Film machen, aber nicht die dramatische Kraft dieser Szene entfalten!" Natürlich setzt Kirchner, ein kleiner Mann mit einem von Kinderlähmung geschwächten Bein, seine Ansicht durch.

Untrügliches Gespür

Heute trägt die Autobiografie des 82-Jährigen denselben Titel: Der Mann von Pölarölara. Immer wenn der Theaterkünstler Kräfte mobilisiert, imaginiert er sich selbst als "Pöla". Und Kirchner gehört in der Tat zu den einflussreichsten Theatermachern der westdeutschen Nachkriegsgeneration.

Es wird kein Zadek, kein Stein und auch kein Peymann aus ihm. Niemand erklärt den Bienenfleißigen zum Originalgenie. Aber Kirchner besitzt ein untrügliches Gespür für die Erfordernisse von Texten und Partituren. Er versteht es, die bürgerliche Gefühlskultur mit dem linken Zeitgeist zur Deckung zu bringen. Als er die Komödie Die Glückskuh möglichst gefühlsecht in einer Dachkammer realisieren will, schafft er gegen den Willen des Intendanten ein waschechtes Rindvieh in den Lastenaufzug. Das Wichtigste: Kirchner überwindet auch die Skepsis der Kuh.

Heute sagt er gegenüber dem STANDARD: "Ich kann nicht den musikalischen Punkt in einer Partitur bestimmen, so wie Harry Kupfer das kann. Aber ich vermag die Tiefgründe aus einer Szene herauszuholen."

Weil er musikalisch ist

Als man Wagner-Enkel Wolfgang fragte, warum er ausgerechnet Kirchner mit der Inszenierung des Bayreuther Rings beauftragt hatte, soll der Clan-Vater geantwortet haben: "Weil er der musikalischste ist!" Als Kirchner Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe 1980 in eine Eisengießerei hineinklotzte, staunte der kleine Herr "Pöla" Bauklötze. Sein Interesse galt den Arbeitern. Die Kapitalisten wurden auf Sesseln durch die Maschinenhalle getragen. Zum herzzerreißenden Tod Johannas perlte Beethovens letzte Klaviersonate (op. 111).

Leider Gottes wurde unter seiner Ägide als Generaldirektor das Berliner Schillertheater zugesperrt. Aber in seinen aufregenden "autobiografischen Splittern" findet man kein böses Wort. Heute sagt Kirchner: "Mit zehn Jahren studierte ich gemeinsam mit meiner Großmutter Sang & Klang des 19. Jahrhunderts" Und wie ein Luftgeist rettete Kirchner die bürgerliche Innerlichkeit ins neue Jahrtausend hinüber. (Ronald Pohl, 12.12.2019)