Der ehemalige Leiter der Wiener Kunsthalle, Nicolaus Schafhausen, kuratierte eine Schau, die zeitgenössische Kunst NS-Dokumenten gegenüberstellt. Hier Baseera Khans "Nike ID#1".

Es braucht kaum einen Quadratmeter Fläche, um Himmel und Meer in Bewegung zu versetzen. In Emil Noldes Ölbild aus dem Jahr 1937 prallen die überbordenden Naturkräfte norddeutscher Küstenlandschaften aufeinander. Der expressive Strich hat etwas unerwartet Sachliches, evoziert sehr konkrete physikalische Prozesse, bannt sie in ein Gleichgewicht, das dem Bild suggestive Kraft gibt.

Gischt und Nebel brechen das verbliebene Dämmerlicht in intensivem Violett an der Grenze physiologisch möglicher Farbwahrnehmung. Was das Bild zeigt, wäre bei freiem Auge schon nicht mehr zu erkennen.

Trefflich ließe sich der kunstimmanente Diskurs über die Grenzen der Wahrnehmung führen – aber die Jahreszahl stört. Der Kurator Nicolaus Schafhausen, ehemaliger Leiter der Wiener Kunsthalle, zeigt Himmel und Meer auch nicht in einem Kunstmuseum oder in den Amtsräumen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die kürzlich zwei Leihgaben mit ähnlichen Nolde-Sujets wieder zurückgeschickt hat.

Überreste in profanen Zweckbauten

Die Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow fügt im NS-Dokumentationszentrum am Münchner Königsplatz Arbeiten über 40 zeitgenössischer Künstler bis August 2020 in die Dauerausstellung München und der Nationalsozialismus ein, ohne darin etwas zu ersetzen oder zu überdecken.

Annette Kelm spürt in ihren Fotografien die Überreste nationalsozialistischer Repräsentation in der profanen Rationalität moderner Zweckbauten nach. Ihre Aufnahme von Travertinsäulen eines nie realisierten Mussolini-Denkmals ragt als überlebensgroße Rückkehr des Verdrängten in der Banalität eines Fabriksgebäudes. Ydessa Hendeles verweist mit ihrer kleinteiligen, auf den ersten Blick liebevollen Installation The Steeple an The People im benachbarten Benediktinerkloster auf historische Abgründe im Verhältnis von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen.

Sie zeigt ein Spielzeugmodell der ersten deutschen Dampfeisenbahn "Adler" aus dem Jahr 1935. Der Adler fuhr zwischen Fürth und Nürnberg. Da Juden lange Zeit in Nürnberg zu wohnen verwehrt war, war die Eisenbahn für Juden, die dorthin zur Arbeit fuhren, Notwendigkeit und Diskriminierungszeichen zugleich. Der zweite Blick auf die Fakten setzt Ahnungen und Denkprozesse frei.

Ydessa Hendeles, Der Adler Modelleisenbahn, Gebr. Märklin & Cie. GmbH, Göppingen, Ger-many, um 1935, 2019 Courtesy the artist

Der 2015 eröffnete Neubau des Dokumentationszentrums beschließt eine lange politische Auseinandersetzung über den öffentlichen Umgang mit Zeitgeschichte. Der Lern- und Erinnerungsort, so das Dokumentationszentrum im Untertitel, verdankt sich der Hartnäckigkeit bürgerschaftlichen Engagements, das ein langjähriges Versäumnis angesichts der exponierten Rolle Münchens in der Geschichte des Nationalsozialismus beendet.

Der schlanke, fast weiße Kubus mit seinen schmalen Fenstern und einem zum Verweilen einladenden Vorplatz ist eine starke architektonische Setzung an einem exponierten Ort. Hier stand das "Braune Haus", in dem bis zum Ende der NS-Herrschaft die Reichsleitung der NSDAP untergebracht war. Der Neubau stellt den wuchtigen Kubaturen und pseudoklassizistischen Fassaden der NS-Architektur seine fast schon elegante Formensprache entgegen und bricht mit der falschen Kontinuität der Bebauung am Platz.

Die Dauerausstellung des Dokumentationszentrums nutzt die seltene Konstellation, dass ihre Exponate im Inneren des Kubus direkt auf Ereignisse in der unmittelbaren Umgebung referieren. Auch im Bezug auf Nolde lassen sie die mutmaßlichen Beweggründe der Kanzlerin für ihren Verzicht leicht erahnen.

Der Fall Nolde

Noldes Werke galten als "entartet", verboten haben sie ihm das Arbeiten dennoch nicht. In den frühen Jahren der westdeutschen Bundesrepublik schienen Biografien wie die Noldes den frommen Wunsch zu beglaubigen, in den tiefsten Tiefen deutscher Innerlichkeit habe die humanisierende Wirkung der Kultur die nationalsozialistischen Verbrechen überdauert. Erst 2014 begann eine intensive Debatte über Noldes Antisemitismus und seine Identifikation mit dem Naziregime.

Soll man Werke wie diese jetzt einfach weghängen, wie es die Kanzlerin gemacht hat? Kann man Künstler und Kunst einfach trennen und die Schönheit der Letzteren dann doch ohne Reue genießen? Auch Kunst kann schuldig werden. Ihr Anspruch auf Naivität ist für alle Zeit verloren. Sie muss die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Genese als Reflexion in sich aufnehmen.

Die Betrachter bleiben mit dem Widerstreit zwischen ästhetischer Erfahrung und dem Wissen um ihre verbrecherischen Gründe auf sich gestellt. Synthesen sind nicht möglich. Diesen Widerspruch aus historischem Wissen und den Grenzen der Vorstellungskraft aushalten zu lernen, ohne wieder in Verdrängung zurück zu fallen, ist auch jenseits der Kunst zentrale Aufgabe zeitgeschichtlicher Reflexion.

Nicht alle Positionen in Tell me about yesterday tomorrow haben einen unmittelbaren thematischen oder biografischen Bezug zur NS-Zeit, aber gerade diese Arbeiten geben Auskunft darüber, was die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen für die Nachwelt in ihrer Gesamtheit irreversibel verändert.

Aber darf man das wirklich? Die Komplexität, die Ambivalenzen und den Bedeutungsüberschuss von Kunstwerken in Zeiten von Fake-News und "alternativen Fakten" dem seriösen Tatsachengerüst einer zeitgeschichtlichen Dokumentation einfach so gegenüberstellen?

Zeitzeugen sterben weg

Mirjam Zadoff bejaht das. Die österreichische Historikerin hat für die Leitung des Dokumentationszentrums eine renommierte Professur in den Vereinigten Staaten aufgegeben und es bei kontinuierlich steigenden Besucherzahlen zu einem lebendigen Ort der Zivilgesellschaft gemacht.

Zeitzeugen werden in absehbarer Zeit nicht mehr zu nachwachsenden Generationen sprechen können. Kulturelle Diversität erfordert nicht Anpassung, sondern die Einladung zur Teilhabe an einer politischen Kultur des Gedenkens. Mit dem Ausritt in die Kunst hat das Münchner NS-Dokumentationszentrum viel riskiert und viel gewonnen. (Uwe Mattheiß, 12.12.2019)