"Banker, Milliardäre und das Establishment" sollen seine Vision für das Land finanzieren, sagt Labour-Chef Jeremy Corbyn.

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London/Wien – Sozialismus war in Großbritannien lange Zeit tabu. Die Labour-Partei hat sich zwischenzeitlich neu erfunden, um den Staub dieser Ideologie aus dem letzten Jahrhundert abzubürsten. Doch seit Jeremy Corbyn vom linken Flügel an der Parteispitze steht, wird Sozialismus wieder hochgehalten. Meist betont der 70-jährige Parteichef, dass er stets von einer demokratischen Variante des Sozialismus spricht.

Doch spätestens seit das neue Manifest der Partei vorliegt, sehen sich die Kritiker bestätigt. Corbyns Pläne würden die staatlichen Durchgriffe massiv ausbauen und die freie Marktwirtschaft bis zu Unkenntlichkeit entstellen, lautet der Tenor in zahlreichen Kommentaren. Was versetzt die Kritiker derart in Panik?

Neues Manifest

Labour will die Staatsausgaben um jährlich 83 Milliarden Pfund ausweiten, wie die BBC berechnet. Das Geld soll in Infrastruktur, den Gesundheitsbereich und Umweltprojekte fließen, aber auch Beamtengehälter und Pensionen deutlich anheben. Bezahlen sollen das alles, in Corbyns Worten, "Banker, Milliardäre und das Establishment".

Konkret will Labour den jetzigen Spitzensteuersatz für Einkommen von derzeit 45 Prozent ab Jahreseinkommen von 80.000 Pfund (rund 100.000 Euro) einheben. Wer über 123.000 Pfund im Jahr verdient, soll davon 50 Prozent abliefern. Für Österreicher oder Skandinavier würde das als Steuersenkung durchgehen. Doch in Großbritannien schrillen bei den Betroffenen die Alarmglocken.

Kommt hinzu, dass Labour sämtliche Einkommen aus Vermögen gleich hoch besteuern will wie Arbeitseinkommen. Eine mögliche Vermögenssteuer, wie sie noch im Manifest aus dem Jahr 2017 steht, ist im aktuellen Programm aber gar nicht erwähnt.

Upper Class anzapfen

Dafür will die britische Linke künftig Zweitwohnungen und Häuser, Erbschaften sowie den Besuch von Privatschulen besteuern. Neben neuen Abgaben für die Upper Class hat Labour eine "noch nie dagewesene Razzia gegen Steuerhinterzieher und Steuervermeider" angekündigt. Wer Steuern hinterzieht, macht das illegal. Wer sie vermeidet, nutzt legale Schlupflöcher. Allein, dass beide Gruppen im selben Atemzug im Labour-Programm genannt werden, dürfte die britische Elite nervös stimmen.

Kein Wunder, dass sich die Berichte von reichen Briten häufen, die sich darauf vorbereiten, das Land zu verlassen. "Es ist klar, dass es zu einem großen Abgang sehr vermögender Privatpersonen und Familien käme, wenn Corbyn die Regierung übernähme", sagt Christian Kälin der Wirtschaftsagentur Bloomberg. Der Schweizer Jurist hilft mit seiner in Zürich angesiedelten Firma Henley & Partners weltweit Betuchten, die optimale Staatsbürgerschaft für ihr Portemonnaie zu finden. Gegenüber dem STANDARD nennt die Agentur Griechenland und Italien, die vehement um die Reichen aus London buhlen.

Unternehmensbesitz umschichten

Dass wohlhabende Familien ihre Steuern weltweit optimieren, ist nicht neu. Zum Beispiel verließ der reichste Brite, der Pharmamilliardär Jim Ratcliffe, nachdem er für den Brexit lobbyiert hatte, das Land in Richtung Monaco.

Was nationale wie globale Investoren an den Plänen von Labour mehr abschreckt als diverse Reichensteuern, ist der geplante Zugriff auf Unternehmen – und dessen Folgen für die Volkswirtschaft. Corbyn erwartet etwa von der Erdölindustrie eine einmalige Abgabe für "unvorhergesehene Profite", die der Branche in den Schoß gefallen seien.

Der tiefste Eingriff in den freien Markt, da sind sich viele Beobachter einig, wäre jedoch Corbyns Plan, zehn Prozent von jedem privaten Großunternehmen an die Mitarbeiter zu übertragen. Die Profite aus diesen Anteilen würden bis zu einer Obergrenze an die Arbeiter und Angestellten fließen, alles darüber hinaus ginge an den Staat.

Kapitalkontrollen

Mit dem Ausblick der teilweisen Enteignung würde sich kein ausländisches Unternehmen mehr im Vereinigten Königreich niederlassen, dafür würden nationale Firmen das Weite suchen, argumentieren Corbyns Gegner. Um das zu verhindern, würde eine Labour-Regierung Kapitalkontrollen einführen, lautet ihre Befürchtung. "Das Vereinigte Königreich würde aus dem Klub der fortschrittlichen Demokratie herausfallen", urteilt etwa Martin Wolf, Mitherausgeber der Financial Times und ehemaliges Mitglied der Labour-Jugendorganisation.

So weit die Horrorszenarien; auf der anderen Seite fanden sich 163 Ökonomen, die in einem offenen Brief Labour eine taugliche Zukunftsvision für die britische Wirtschaft attestierten. Ihr Fokus lag auf der maroden Infrastruktur, dem Investitionsstau im privaten Sektor und der Notwendigkeit, die Wirtschaft mit Blick auf Umwelt und Klima nachhaltig auszurichten. Einig sind sich alle, dass Corbyns neues Programm das Land radikal verändern würde. (Leopold Stefan, 12.12.2019)