Boris Johnson machte im Wahlkampf einen teilweise hölzernen Eindruck., oft wurde er der Lüge überführt. "Dass jemand Fakten ignoriert und dauernd lügt, ist neu in Großbritannien", so ein Ex-Parteifreund.

Foto: Imago/Mattia

Wird Boris Johnson auf den letzten Metern nervös? Zweimal in 48 Stunden hat sich der britische Premier vor laufender TV-Kamera eine Blöße gegeben, ausgerechnet im Schlussspurt für die Unterhauswahl am heutigen Donnerstag.

Am Montag konfrontierte ihn ein Reporter mit dem Foto eines Vierjährigen mit Lungenentzündung, der wegen der Bettennot im Spital von Leeds auf dem Fußboden schlafen musste. Anstatt das Foto anzuschauen und angemessene Worte der Sympathie zu finden, steckte Johnson das Mobiltelefon des Reporters in die eigene Tasche und sprach weiter roboterhaft seine vorgestanzten Sätze in die Kamera. Später versuchten seine Spindoktoren, die Mutter des Buben als Labour-Sympathisantin und deshalb unehrlich zu denunzieren.

Am Mittwoch flüchtete der Tory-Chef vor einem lästigen Journalisten in einen begehbaren Kühlschrank, ein PR-Helfer fluchte live im Frühstücksfernsehen. Ernüchtert von der Kälte versprach Johnson seinem Verfolger doch noch ein Interview, allerdings ohne Terminangabe. Wenn die Stimmen erst einmal in den Urnen liegen, dürfte das Versprechen wenig wert sein.

Weniger Witz als gedacht

Unbedeutende Szenen eigentlich, die in der Flut wohlinszenierter Bilder versinken. Und doch symptomatisch gerade wegen des Kontrasts zu der glatten, langweiligen, aus Parteisicht also praktisch perfekten Wiederwahlkampagne des 55-Jährigen, der von der konservativen Basis nicht zuletzt wegen seines Versprechens gewählt wurde, er sei ein exzellenter Volkstribun und Wahlkämpfer. Authentischer als seine hölzerne Vorgängerin Theresa May ist er zwar. Aber hätte man nicht gerade in leicht kniffligen Momenten ein wenig mehr Souveränität, Spontaneität, ja Witz erwarten dürfen?

Auf diese Attribute lief ja die Inszenierung hinaus, die den Briten die Wiederwahl der seit knapp zehn Jahren regierenden Konservativen nahelegen sollte. Er selbst sei erst seit etwa 130 Tagen im Amt, beteuerte der 55-Jährige bei jeder Gelegenheit, distanzierte sich von der brutalen Sparpolitik der konservativ-liberalen Koalition (2010–2015) unter David Cameron und von der Brexit-Blockade der glücklosen May. "Let’s get Brexit done", den Brexit vollenden, diesen Slogan hat der Regierungschef dem Wahlvolk bis zur Bewusstlosigkeit um die Ohren geschlagen. Es ist der einzige Satz, der von dieser ersten Adventswahl seit knapp 100 Jahren im Gedächtnis bleiben wird.

Keine völlige Sicherheit

Bestand denn Anlass zur Nervosität? Bis zuletzt prognostizierten die Marktforscher den Tories einen deutlichen Vorsprung vor der Labour-Opposition unter Jeremy Corbyn – völlige Sicherheit über den konservativen Sieg gab es aber nicht.

Von der Gefahr einer "Chaoskoalition" mit Corbyn in der Downing Street handelte auch der letzte Wahlwerbespot der konservativen Kampagne. Diese kam allerdings selbst immer wieder ins Stolpern, vor allem wegen einer angeblichen Charaktereigenschaft ihrer Leitfigur. Wenn es nämlich ein Dauerthema gegeben hat in den vergangenen Wochen, dann waren es die nagenden Zweifel der Briten an der Wahrheitsliebe ihres Premiers. Politiker erzählten ja gern einmal Halbwahrheiten, sagt Ex-Generalstaatsanwalt Dominic Grieve. Wie aber Johnson "die Fakten ignoriert und dauernd lügt, das ist atemberaubend – und neu in der britischen Politik". Die Unwahrheit zu sagen, glaubt gar Times-Kolumnist Matthew Parris, falle Johnson "so leicht wie das Atmen".

Grieve hat die Tory-Partei ebenso verlassen wie viele andere Liberalkonservative, angeführt von den beiden Ex- Finanzministern Kenneth Clarke und Philip Hammond, sogar Johnsons jüngeren Bruder Joseph eingeschlossen. Dieser sprach vom Dilemma zwischen familiärer Loyalität und dem Staatswohl. Tatsächlich lässt das Tory-Programm die Möglichkeit offen, dass der für Großbritannien ruinöse Chaos-Brexit am Ende der Übergangsfrist in knapp 13 Monaten doch eintritt. Nur sehr wenig Zeit, elf Monate, bleibt nämlich bei einem EU-Ausstieg Ende Jänner übrig, um mit der EU die künftigen Beziehungen auszuhandeln. Einwürfe der Opposition, derartige Deals würden gewöhnlich Jahre in Anspruch nehmen, wischte Johnson lässig vom Tisch – in der ihm eigenen Art, selbstsicher, aber argumentfrei.

Den Briten, so Umfragen, ist das egal. Hauptsache, im vierten Anlauf klappt Ende Jänner endlich der EU-Austritt. Oppositionschef Corbyn halten sie mehrheitlich für integer, aber unfähig; die Liberaldemokratin Jo Swinson für arrogant; die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon gilt als kompetent, aber einzig an der Unabhängigkeit ihrer Nation interessiert. Nur dass es der Opposition nicht gelang, eine einheitliche Anti-Brexit-Front zu bilden, könnte Johnsons Rettung sein. (12.12.2019)