Ein Fünftel der Befragten hat eine Körperbehinderung, knapp die Hälfte sind Personen mit Lernschwierigkeiten und ein Drittel Personen mit psychischer Erkrankung.

Foto: Corn

Wien – Menschen mit Behinderung oder einer psychischen Erkrankung erleben deutlich öfter Gewalt als Menschen ohne Beeinträchtigung. Erstmals ist dies in Österreich von einer Studie im Detail untersucht worden. Acht von zehn dafür befragte Personen gaben an, schon einmal in ihrem Leben psychische Gewalt erfahren zu haben. Dasselbe gilt für körperliche Gewalt. Etwa jeder Zweite berichtete von sexueller Gewalt.

Die Untersuchung führte das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie durch, am Donnerstag wurden die Ergebnisse auf der Website des Sozialministeriums veröffentlicht, das den Studienauftrag gegeben hatte. Kernstück ist eine standardisierte Befragung von 376 Menschen mit Behinderungen oder einer psychischen Erkrankung, die mindestens ein halbes Jahr in institutionellen Settings leben oder arbeiten. Sie wohnen also zum Beispiel in einem Pflegeheim oder einer betreuten WG oder arbeiten in einer Werkstätte. Ein Teil war auch im Maßnahmenvollzug untergebracht.

Um ein Vielfaches häufiger betroffen

Die Erhebung zeigt, dass Menschen mit Behinderung dreimal so häufig von schwerer psychischer Gewalt, zum Beispiel hartnäckiger Verfolgung oder Belästigung, betroffen sind. Vier von zehn Personen gaben an, bereits schwere körperliche Gewalt erlebt zu haben, jeder Zehnte in den vergangenen drei Jahren. Sie sind damit von körperlicher Gewalt bis zu viermal häufiger betroffen als Personen ohne Beeinträchtigung. Besonders häufig ist jemand davon betroffen, der bei seinen Grundbedürfnissen Unterstützungsbedarf hat.

Auch sexuelle Gewalt widerfährt Menschen mit Behinderung deutlich öfter. Mehr als jeder Dritte berichtete davon, in seinem Leben bereits schwere sexuelle Gewalt erlebt zu haben. Männer mit Behinderung sind deutlich öfter davon betroffen als Männer ohne Behinderung. Allerdings haben Frauen insgesamt weitaus öfter sexuelle Gewalterfahrungen gemacht. Frauen mit Behinderungen oder psychischer Erkrankung sind dabei besonders oft schweren sexuellen Übergriffen ausgesetzt, bis hin zur Vergewaltigung. Die Vergleichsdaten über Menschen ohne Behinderung entstammen einer Studie des Österreichischen Instituts für Familienforschung von 2011.

Konflikte zwischen Bewohnern

Die Studie zeigt, dass das Risiko für Gewalterfahrungen für Menschen, die in einem von Gewalt geprägten Umfeld aufwuchsen, besonders groß sind. Außerdem kommt es in Einrichtungen mit geringen Personalressourcen häufiger zu Gewalterfahrungen. Einerseits wird dies dem Zeitdruck bei Handlungen zur Betreuung von Personen zugeschrieben, andererseits auch dem Umstand, dass zu wenig Zeit dafür besteht, auf Konflikte und Gewalt zwischen Bewohnern zu reagieren.

Außerdem wirken sich laut der Studie starre Strukturen gewaltfördernd aus: zum Beispiel fixe Waschzeiten oder fehlende Rückzugsmöglichkeiten in einer Einrichtung. Gewalt in Institutionen kann vom Personal ausgeübt werden, aber auch von Mitbewohnern. Die Größe der Einrichtung zeigte hingegen keinen Zusammenhang mit dem Ausmaß an direkter Gewalt.

"Haben erstmals Daten"

"Wir haben erstmals für Österreich annähernd repräsentative Daten, wie oft Menschen mit Behinderungen von Gewalt betroffen sind", sagte Studienleiterin Hemma Mayrhofer vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie beim Pressegespräch anlässlich der Studienveröffentlichung. Die Angaben, die Menschen mit Behinderung über Gewalterfahrungen gemacht haben, betrafen ihr ganzes Leben, konnten sich also auch auf außerhalb der institutionellen Einrichtung verbrachte Zeit beziehen. Abgefragt wurde auch, wie oft die Menschen in den vergangenen drei Jahren unterschiedliche Formen von Gewalt erlebten – da betrifft wiederum ein Großteil der Vorfälle die Wohneinrichtung oder Arbeitsstätte.

Knapp die Hälfte der Befragten sind Personen mit Lernschwierigkeiten, ein Drittel der Personen haben eine psychische Erkrankung und ein Fünftel eine Körperbehinderung. Zusätzlich wurden 86 Interviews mit Personal, 26 Experteninterviews und 15 vertiefende qualitative Interviews geführt.

Mithilfe von Symbolkärtchen

Wie befragt man Menschen mit Behinderung zu so einem sensiblen Thema? Bei den mündlichen Interviews mit in leichter Sprache verfassten Fragen wurden unterstützend auch hunderte Symbolkärtchen und teilweise Gebärdensprache, Mimik und Gestik eingesetzt. Jede Frage und jede Antwortalternative wurde auf einem eigenen Kärtchen grafisch dargestellt.

"Manche Befragungen dauerten einen ganzen Tag", schilderte Studienleiterin Mayrhofer. Einige hätten aufgrund der Möglichkeit, nonverbal über ihre Erfahrungen zu berichten, also auf Kärtchen zu zeigen, erstmals in ihrem Leben derartige Übergriffe thematisiert, hieß es von den Studienautorinnen.

Starre Strukturen negativ

Die Untersuchenden zogen auch Schlussfolgerungen, was Gewalt vorbeugen kann: Demnach braucht es therapeutische Angebote für Menschen mit Behinderung, die in einem lieblosen Umfeld mit Gewalt aufgewachsen sind. Zudem bedürfe es lebensnaher Informationen und Unterstützungsangebote. Außerdem seien soziale Kontakte sowie Vertrauenspersonen wichtig. In Betreuungseinrichtungen wäre neben ausreichend vorhandenem Personal eine möglichst selbstbestimmte Lebensgestaltung wesentlich, also zum Beispiel auch dabei mitreden zu können, wer einen unterstützt.

"Glücksbringer" in Wien

Angesprochen auf die Studienergebnisse sagt der Wiener Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) dem STANDARD, in Wien habe man vor rund drei Jahren die gesamte Ausrichtung der Behindertenpolitik hinterfragt und unter Einbeziehung Betroffener umgestaltet. Damals sei klar geworden, dass Gewalterfahrungen ein großes, wichtiges Thema für Menschen mit Behinderungen sind. Daher seien Kompetenzzentren zur Persönlichkeitsstärkung für Betroffene eingerichtet worden. Außerdem wurde der "Glücksbringer"-Lehrgang ins Leben gerufen: Menschen mit Behinderung können sich in einem Lehrgang des Fonds Soziales Wien und von Partnerorganisationen als "Peer-Streitschlichter" ausbilden lassen, wodurch die Atmosphäre in Einrichtungen der Behindertenarbeit verbessert werden soll. (Gudrun Springer, 12.12.2019)