Sandra ist 26 Jahre alt. In die Schule ist sie nie gern gegangen. Sie hat viel gefehlt. Mit 15 hat sie die Schule beendet. Ihr höchster Abschluss: ein Zeugnis der 6. Schulstufe. Mika schickt das Arbeitsamt. Er ist 22 Jahre alt. Er kann schreiben und lesen. Aber nur sehr langsam. Und in Mathe hat er sich immer schwer getan. Parvis war nie in der Schule. Er ist in seiner Muttersprache nicht alphabetisiert, er kann Farsi sprechen, aber nicht schreiben und lesen. Auch Klaudia war nie in der Schule. Jetzt ist ihre Tochter in die erste Klasse gekommen. Klaudia möchte verstehen, was im Elternheft steht. Darum ist sie jetzt hier.
Hier, das ist ein Kurs für Basisbildung. Ein Kurs, in dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das lernen sollen, was sie für ihr tägliches Leben brauchen.

2008 wurde das Projekt "Raus aus der Box“ gestartet. Ausgangsfragestellung: Wann lerne ich gern und gut? Ergebnisse: Wenn es Freude macht, wenn ich berührt werde, wenn jemand an mich glaubt, wenn es spannende Impulse gibt. Seit damals experimentiert das Kunstlabor Graz an Zugängen, Arbeitsweisen und Methoden in der Basisbildung. Das klassische Lernsetting schien für die Arbeit nicht passend. Überzeugender schienen künstlerisch-kreative Methoden, das Schaffen von Lernumgebungen, die sich an den Teilnehmerinnen und Teilnehmern orientieren sowie projektorientierte Lernprozesse – der Begriff "Lernkunst" war geboren.

Theaterprojekt mit und von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Basisbildung
Niko Milatovic

Aber was heißt "Lernkunst" konkret?

Seit Tagen ist der Wischi-Waschi-Wäsche-waschen-Zungenbrecher für Parvis eine Herausforderung. Der Laut W will ihm nicht über die Lippen. Diesen über Wochen in unterschiedlichen Tempi und Lautstärken, in der Gruppe, allein, mit Bewegungen auszusprechen, spornt ihn an. Sandra ist indes froh, dass sie hier im Kurs nicht allzu stark an die Schule erinnert wird. Sie hatte Angst, hierher zu kommen. Aber gerade strahlt sie glücklich. Alle loben den Schokoladekuchen, den sie aus dem Backrohr geholt hat. Sie hat das Rezept dafür im Internet recherchiert, hat eine Einkaufsliste geschrieben, alle Zutaten eingekauft und die Ausgaben abgerechnet. Dann wiegen und mixen und Eieruhr stellen. Der Kuchen duftet köstlich. Gut, dass Malika eben zur Tür hereinkommt. Sie erzählt stolz, dass sie das Theaterhaus gefunden hat. Erst mit der Straßenbahn, bei der Haltestelle Kunsthaus aussteigen, dann nach rechts abbiegen, dann noch fünf Minuten Fußweg. Sie hat alles auf dem Arbeitsblatt notiert. Heute Abend wird sie sich mit Raffaella dort treffen und gemeinsam werden sie sich das Stück "Gute Nacht" anschauen.

Das Stück "Der Pakt" hat Malika auch gesehen. Da haben Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Basisbildungskurses gemeinsam mit alten Menschen ein Stück erarbeitet. Über Wochen haben sie dafür geprobt. Und dann sind sie auf der Bühne des Grazer Schauspielhauses gestanden. Und haben ihre Geschichten erzählt. Wenn man auf der Bühne steht und einen Satz ans Publikum richtet, wird augenblicklich klar, warum eine gute Aussprache wichtig ist. Mika will nicht auf die Bühne, aber in die Bibliothek. Er bereitet ein Referat vor, in dem er über seine Lieblingsplätze in Graz berichten wird. Und wie sich diese in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Er braucht noch ein Buch mit alten Stadtansichten für sein Plakat.

Was man sonst noch so machen könnte: eine Stunde mit Tanz und Takt bereichern
Katharina Grilj

Wer arbeitet im "Lernkunst"-Team?

Andrea hat Mika bei der Gestaltung unterstützt. Sie ist nicht nur Basisbildnerin, sondern auch Bildende Künstlerin. Lothar, der zwei Mal pro Woche als Trainer im Kurs arbeitet, ist im Hauptberuf Musiker. Sein Schwerpunkt in der Sprachvermittlung ist Rhythmus. Sein Akkordeon hat er immer dabei. Theaterpädagogische Methoden fließen in die Arbeit von Kristina ein; gestern hat sie mit der Gruppe Rollenspiele geprobt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren Ärztinnen, Patienten, Sprechstundenhilfen. Großes Theater, es wurde viel gelacht. Parvis schreibt nun die Redemittel, die man für so ein Arztgespräch braucht, in sein Heft. Die schwierigen spricht er zusätzlich auf sein Handy, so kann er auch eine Übersetzung in Farsi aufnehmen. Doris überlegt mit ihm, ob diese Sprachaufnahmen auch irgendwie ins Lernvideo sollen. In der letzten Woche haben sie gemeinsam Videos angeschaut und analysiert, was ein gutes Lernvideo ausmacht. Das erste selbstgedrehte Video wird ein Arztgespräch sein. Eine Kleingruppe hat bereits mit den Proben begonnen, alle Rollen sind vergeben. Malika wird eine Patientin mit Zahnschmerzen spielen. Andrea wird mit der Gruppe das Bühnensetting gestalten. Sandra will unbedingt eine verstaubte Topfpflanze. Die Musik für den Nachspann wird Lothar mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aufnehmen. Schon wird Wortschatz für das Lied auf die Tafel geschrieben: Mund auf!, Seit wann?, Loch, Füllung, e-Card. Was um Himmels Willen soll sich darauf reimen? Mika wird filmen. Die Kamera liegt bereit. Aber jetzt werden alle einmal Kuchen essen. Und überlegen, was man sonst noch so alles im Kurs für Basisbildung machen könnte. (Katharina Grilj, 19.12.2019)

Katharina Grilj arbeitet als Basisbildnerin und Theaterpädagogin bei uniT in Graz

uniT Graz
  • Weitere Einblicke in die Arbeit des Kunstlabor Graz gibt der Film LERNKUNST:

In der Methodenbox sind künstlerisch-kreative Methoden, die im Kunstlabor erarbeitet wurden, zusammengestellt. Zahlreiche Aufgabenstellungen, die nach Lust, Laune und Möglichkeit variabel kombinierbar in der Basisbildung eingesetzt und ausgebaut werden können, sind dort zusammengefasst. Bestellen kann man so eine Methodenbox unter: office@uni-t.org