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Wird sich das Tor zwischen Großbritannien und der EU nach der Wahl tatsächlich schließen?
Foto: Reuters / Phil Noble

Der konservative Premier Boris Johnson hat den Urnengang vorzeitig vom Zaun gebrochen, um im britischen Unterhaus eine solide Mehrheit für den Ende Jänner geplanten EU-Austritt sicherzustellen. Die sechst größte Wirtschaftsmacht der Welt steht vor erheblichen Herausforderungen – ganz unabhängig vom Wahlausgang.

Brexit

Der Austrittstermin 31. Jänner steht schon am Horizont. Die Torys bestritten ihren Wahlkampf vor allem mit dem Slogan "Get Brexit Done" – den Austritt durchziehen. Mit einer konservativen Mandatsmehrheit im Unterhaus würde Großbritannien im vierten Anlauf die EU auch tatsächlich verlassen. In Brüssel wird erwartet, dass Johnson ein anderes Wahlversprechen bricht und die eigentlich nur bis Ende 2020 währende Übergangsfrist verlängert. Denn der angestrebte Freihandelsvertrag wird binnen elf Monaten wohl nicht fertig sein. Alle anderen Parteien wollen den EU-Austritt erneut dem Volk vorlegen. Labour-Chef Jeremy Corbyn glaubt, dies ließe sich "binnen sechs Monaten" erledigen.

Hält die Union?

Die schottische Nationalpartei SNP pocht auf ein zweites Unabhängigkeitsreferendum 2020. Auch in Nordirland mehren sich die Stimmen für die Vereinigung mit der Republik im Süden. Und sogar in Wales wird erstmals seit langem ernsthaft über eine Abnabelung von England diskutiert. Kommt der Brexit, dürften zentrifugale Kräfte zunehmen.

Besonders Schottland hat sich durch die schrittweise Regionalisierung seit 1997 mehr und mehr von London entfremdet, weder bei Labour noch bei den Torys gibt es prominente schottische Stimmen. Während bei der Volksabstimmung 2014 noch 55 Prozent der Schotten am Vereinigten Königreich festhalten wollten, gibt es neuerdings knappe Mehrheiten für die Unabhängigkeit.

Gesundheit und Altenpflege

Alle Parteien sind sich einig: Das notorisch überlastete Nationale Gesundheitssystem NHS braucht zusätzliches Geld. Die Johnson-Regierung versprach den Neubau von 40 neuen Spitälern und 40.000 zusätzliche Krankenschwestern – bei näherer Betrachtung falsche Zahlen.

Johnsons Pläne für eine längst überfällige Neuordnung der Altenpflege blieben unklar: Man werde überparteiliche Gespräche anbieten. Diese Unverbindlichkeit geht auf den Wahlkampf 2017 zurück, als seine Vorgängerin Theresa May eine Finanzierung durch die Mittelschicht vorschlug, was als "Demenzsteuer" denunziert wurde. Expertenschätzungen zufolge steigt der Finanzbedarf für die überalternde Bevölkerung binnen fünf Jahren um mehr als die Hälfte.

Finanzen und Wirtschaft

Die bisher lethargischen Finanzmärkte wurden Mitte der Woche angesichts knapper werdender Umfragen kurzzeitig nervös; der konservative Telegraph machte der Leserschaft Angst mit der erstaunlich präzise wirkenden Prognose, ein Labour-Sieg werde den Wert britischer Aktien um 367 Milliarden Pfund (435 Mrd. Euro) in den Keller rauschen lassen. In Wirklichkeit würden kleinere, wirtschaftsfreundlichere Parteien sowie EU-Wettbewerbsregeln die radikalsten Vorschläge einer sozialistischen Minderheitsregierung unter Jeremy Corbyn blockieren. Dazu gehören die Verstaatlichung der Eisenbahn-Betreiber sowie der Energieversorger ebenso wie eine zehnprozentige Beteiligung der Arbeitnehmer an den Aktien ihrer Firmen.

Wirtschaftsverbände mahnen immer wieder die Lösung langfristiger Probleme an – wie die immense Verschuldung der Privathaushalte, die vergleichsweise niedrige Produktivität und die schlechte Allgemeinbildung britischer Schulabgänger. Der Industrieverband CBI warnte im Wahlkampf vor der allzu harten Drosselung der Einwanderung nach dem EU-Austritt; die Zahlen sind seit dem Referendumsentscheid 2016 ohnehin zurückgegangen.

Polizei und Justiz

Der islamistische Terroranschlag auf der London Bridge vor wenigen Wochen hat dem zuvor kaum besprochenen Thema neue Dringlichkeit verschafft. Johnson versprach härtere Strafen und längere Haft für Gewalttäter; der Vater eines der beiden Opfer verurteilte den Premier dafür – dieser habe die Morde "nicht als Tragödie, sondern als Gelegenheit" für einen harten Wahlkampfauftritt benutzt.

Die Opposition verweist auf die harten Kürzungen bei Polizei und Justiz sowie auf die völlig verkorkste Privatisierung der Bewährungshilfe, die mittlerweile mühsam wieder rückgängig gemacht wird.

Im Kampf ums Londoner Rathaus dürfte im Frühjahr 2020 die grassierende Bandenkriminalität in der Hauptstadt mit furchterregenden Messermorden die öffentliche Diskussion dominieren. (Sebastian Borger aus London, 12.12.2019)