Brüssel – Viele neue Gesichter, aber kein Brite dabei, inhaltlich nicht viel Neues, keine Brexit-Diskussion, stattdessen der altbekannte Streit über die Dotierung des EU-Budgetrahmens bis 2027. Das war das markante Bild beim EU-Gipfel von 27 der 28 Staats- und Regierungschefs der EU bei ihrem regulären Treffen, das Donnerstagnachmittag in Brüssel begann. In der Nacht auf Freitag kam es dann aber beim Klimaschutz zu einem wichtigen Kompromiss der EU-Staaten: Klimaneutralität bis 2050. Polen ist ausgenommen, im Text der Einigung wird außerdem explizit die Atomkraft – die von einigen EU-Staaten abgelehnt wird – erwähnt.

Der belgische Präsident des Europäischen Rates gab die Einigung via Twitter bekannt.

Die vier Visegrád-Staaten Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen hatten zuvor die Festschreibung des 2050-Ziels blockiert. Klimaneutralität bedeutet, dass die EU nicht mehr Treibhausgas produziert, als sie an Ausgleichsmaßnahmen wie Aufforstung oder CO2-Speicherung anbietet.

Polen wird nun eine Ausnahmeregelung zugestanden, nachdem es zuvor einen längeren Übergangszeitraum verlangt hatte. Warschau hatte Klimaneutralität erst für das Jahr 2070 vorgeschlagen. Dieser Vorschlag war im Kreis der EU-Partner in Brüssel abgelehnt worden. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki argumentierte, dass sein Land zunächst Zusagen der EU über milliardenschwere Finanzhilfen zum Umbau seiner Wirtschaft haben möchte. Über den Ausnahmefall wird beim EU-Gipfel im Juni 2020 noch einmal diskutiert werden, Polen selbst will sich dabei nicht unter Druck setzen lassen und verkündete noch in der Nacht auf Freitag, dass es die Klimaziele in "eigenem Tempo" erreichen wolle.

Nuklearenergie

Für Tschechien soll extra erwähnt werden, dass es Atomkraftwerke verwenden darf. Im Text der Einigung steht nun: "Einige Mitgliedsstaaten" verwenden in ihrem Energiemix Atomenergie. Prag hatte in den schwierigen Verhandlungen darauf gedrungen, Atomenergie als grüne Energiequelle einzustufen. Österreich hatte das abgelehnt.

Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein begrüßte die Einigung noch in der Nacht auf Freitag. "An sich sind alle Mitgliedsstaaten an Bord", betonte sie. Den nationalen Klimamix könne jeder Staat für sich evaluieren, wie er wolle. "Es war ein langes und zähes Ringen, aber doch mit einem glücklichen Ergebnis", so Bierlein. An der Haltung Österreichs habe sich nichts geändert, dass Atomkraft keine nachhaltige und sichere Energiequelle sei.

Weitgehend offen blieb, wie der von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen präsentierte "Green Deal" für den Klimaschutz umgesetzt und finanziert werden soll – und welche Verbindlichkeiten für einzelne Länder damit verbunden wären.

Brexit-Wahlen in Großbritannien

Zum ersten Mal seit dem EU-Beitritt 1973 fand der Gipfel ohne einen Premierminister aus Großbritannien statt. Boris Johnson hatte die Neuwahlen auf den 12. Dezember gelegt und blieb in London – fast so, als sei der Austritt seines Landes bereits vollzogen. Der EU-Skeptiker Johnson ließ sich im Rat ausgerechnet vom Ständigen Ratspräsidenten Charles Michel vertreten. Der hatte in dieser Funktion ebenso seine Premiere wie von der Leyen.

Für Ratspräsident Charles Michel war es der erste Gipfel im neuen Amt als Gastgeber, ebenso für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Foto: Alain JOCARD / AFP

Merkel als Doyenne der Europapolitik

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ist nach dem Abgang von Jean-Claude Juncker nun allein Doyenne der europäischen Politik. Der Gemeinschaft stehen substanzielle Einschnitte bevor. Die Briten haben Johnson mit einer absoluten Mehrheit im Unterhaus ausgestattet – demnach wird nun davon ausgegangen, dass der EU-Austritt per 31. Jänner gemäß dem vereinbarten Brexit-Deal vollzogen wird.

Die EU-27 müssten in diesem Fall sofort damit beginnen, ein neues Handelsabkommen mit London zu verhandeln, das nach der Übergangsfrist bis Ende 2020 bestehende Verträge ersetzt. Der Brexit hätte starke Auswirkungen auf die Finanzierung gemeinsamer Politiken, weil mit Großbritannien ein großer Nettozahler wegfällt.

Nettozahler

Dem folgend standen beim Gipfel neben von der Leyens "Green Deal" zwei weitere Themen im Mittelpunkt der Debatten. Erstens: der Budgetrahmen 2021 bis 2027. Die Kommission will, dass die EU-Staaten 1,11 Prozent ihrer Wirtschaftskraft einzahlen, was die Nettozahler Österreich, Schweden, Niederlande, Dänemark aber strikt ablehnen. 1,0 Prozent des BNE seien die Obergrenze, bekräftigte Bierlein. Die Differenz macht zig Milliarden aus.

Die 16 Kohäsionsländer der EU, die mehr aus dem Budget bekommen, als sie einzahlen, wollen das nicht akzeptieren. Sie fordern zudem Kompensation für Kosten der Maßnahmen zum Klimaschutz, zur Umstellung von Kohle auf alternative Energien.

EU verlängert Sanktionen gegen Russland

Die Wirtschaftssanktionen der EU gegen Russland werden trotz der Wiederbelebung des Friedensprozesses für die Ostukraine bis Ende Juli 2020 verlängert. Grund für die Entscheidung ist, dass es bisher unklar ist, ob es wirklich zu Fortschritten kommt.

Die EU hatte die Handels- und Investitionsbeschränkungen trotz Milliardenverlusten für heimische Unternehmen zuletzt im Juni bis zum 31. Jänner 2020 verlängert. Sie sollen nun weitere sechs Monate gelten. Sie richten sich gegen russische Staatsbanken, den Im- und Export von Rüstungsgütern sowie die Öl- und Gasindustrie. Außerdem verurteilten die EU-Staaten das türkisch-libysche Seeabkommen und forderten eine rasche EU-Reaktion auf die Blockade der Welthandelsorganisation WTO, die seit rund zwei Jahren von den USA blockiert wird.

Drittes Thema, das die EU ab 2020 dominieren wird: interne Reformen bis hin zum Abschluss eines neuen EU-Vertrags. (Thomas Mayer aus Brüssel, red, 12.12.2019)