Die USA setzen die WTO unter Druck, indem sie die Nachbesetzung von Berufungsrichtern verhindern und so eines ihrer wichtigsten Gremien blockieren. Im Gastkommentar erläutert der Globalisierungskritiker Walden Bello, was beim Welthandel schiefläuft.

Der Streitbeilegungsmechanismus der Welthandelsorganisation WTO ist seit Dienstag de facto außer Kraft. Das Dogma des Freihandels ist heute tief in der Defensive – und das völlig zu Recht. Es heißt, seine Ideologen hätten ihn einfach nicht vehement genug verteidigt. Tatsächlich haben sie sich viel Schlimmeres zuschulden kommen lassen.

96 Prozent des weltweiten Handels unterliegen WTO-Regeln.
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Bis zu Donald Trumps Amtsantritt waren willkürliche Zölle selten.
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Freihandel – ein Euphemismus

Ihr erster Sündenfall ist die Heuchelei. Freihandelsideologen haben die WTO zum "Herzstück von Freihandel und Globalisierung" erklärt. Doch die WTO fördert mit ihren zentralen Abkommen keine freien Märkte, sondern riesige Monopole. Das WTO-Abkommen über Rechte an geistigem Eigentum etwa schränkt durch verschärfte Patentvorschriften die Verbreitung von Wissen und technologischen Innovationen ein – im Interesse einiger Konzerngiganten. Ein anderes Beispiel sind die Investitionsregeln. Sie schützen vor allem die Interessen der bestehenden Automobilriesen und verbieten heute genau jene lokale Industriepolitik, die es Ländern wie Korea und Malaysia ermöglicht hat, ihre eigene Autoindustrie zu entwickeln, und die dem Erfolg dieser Volkswirtschaften zugrunde liegt. Das Agrarabkommen wiederum dient vor allem dazu, die Märkte der Entwicklungsländer für die hochsubventionierten Agrarprodukte der EU und der USA zu öffnen. Freihandel ist bei alledem nur ein Euphemismus für die von Konzerninteressen gekaperten Regeln des internationalen Handels.

Der zweite Sündenfall der Freihandelsideologen ist, dass ihre Behauptungen eben reine Ideologie sind. Sie beteuern, Länder, die Freihandel betreiben, hätten sich am besten entwickelt. Das ist falsch. Ob man nun Deutschland und die USA im 19. Jahrhundert, Japan und Korea im 20. Jahrhundert oder China im 21. Jahrhundert betrachtet – für die industrielle Entwicklung dieser Länder waren immer der Schutz des eigenen Marktes, Exportsubventionen, Regeln für den Anteil lokaler Wertschöpfung, für Investitionen, der uneingeschränkte Technologietransfer von ausländischen Unternehmen sowie intelligentes Devisenmanagement entscheidend.

Fragwürdige Schlussfolgerungen

Chinas Wachstum ist zwar exportorientiert, es betreibt jedoch keinen Freihandel, sondern einen gesteuerten Handel, der Devisenmanagement und hohe Exportsubventionen beinhaltet. Gescheitert sind hingegen Länder wie Mexiko, die Philippinen und zahlreiche afrikanische Staaten, die von den Propheten des Freihandels getäuscht oder gezwungen wurden, auf eine intelligente wirtschaftspolitische Steuerung zu verzichten.

Der dritte Sündenfall sind fragwürdige Schlussfolgerungen. Anders als behauptet gibt es nämlich nur wenige bis gar keine Belege dafür, dass Länder, die ihren Handel für die "Segnungen" der Globalisierung und des Freihandels geöffnet haben, größere Fortschritte in der Armutsbekämpfung erreicht hätten als jene, die dies nicht getan haben. Topökonomen unter Leitung von Nobelpreisträger Angus Deaton haben die Forschungsergebnisse der Weltbank evaluiert. Die Arbeitsgruppe kommt zum Schluss, dass "ein Großteil dieser Forschungen so grobe Fehler aufweist, dass die Ergebnisse nicht annähernd als zuverlässig angesehen werden können". Dennoch berufen sich die meisten Vertreter der Freihandelslobby auf diese Ergebnisse.

Ungleichheit vergrößert

Was aber zeigt die solide Forschung? Erstens, dass eine stärkere globale Integration durch Handel die Ungleichheit nicht nur zwischen den Ländern, sondern auch zwischen Haushalten weltweit stark vergrößert hat – mit Ausnahme des Sonderfalls China. Zweitens, dass die Globalisierung auch innerhalb von Staaten zu stärkerer Polarisierung führt – zwischen Regionen, die vom Handel profitieren, und solchen, für die mehr Handel zu mehr Armut führt.

Drittens, dass die Globalisierung sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die Entwicklungsländer gehabt hat: Ostasiatische Länder haben aufgrund ihrer früheren protektionistischen Politik und ihres gesteuerten Handels profitiert, Lateinamerika, Afrika und der Nahe Osten hingegen kaum oder sogar stark gelitten. Und die Importkonkurrenz chinesischer Produkte hat nicht nur Regionen in den USA und Europa deindustrialisiert, sondern auch die Fertigungsindustrie in Mexiko, Brasilien und Afrika zerstört. Viertens sind Freihandel und ungezügelter Konsum ein Schlüsselfaktor für höhere CO2-Emissionen. Dabei geht es nicht nur um den zunehmenden Gütertransport, sondern auch um neue globale Wertschöpfungsketten mit einem enormen ökologischen Fußabdruck.

Handel mit Spielräumen

Was ist also die Antwort? Ein Rückzug aus dem Welthandel? Nein. Ich bin für Handel. Wir müssen zurück zu einem System ähnlich dem Handels- und Zollabkommen Gatt, das bis zur Gründung der WTO im Jahr 1995 existierte. Es hat Handel gefördert, war aber flexibel genug, um Ländern politische Spielräume für die Bewältigung ihrer vielfältigen sozialen Herausforderungen zu bieten, indem es Rohstoff-, Umwelt- und Sozialdumping verhindert hat.

Wie die Ideologen der zentral gesteuerten sozialistischen Planwirtschaft haben die Ideologen des Freihandels all das ignoriert und versucht, den Staaten ein Einheitsmodell aufzuzwingen. Sie haben damit nicht die "beste aller möglichen Welten" geschaffen, sondern Donald Trump. (Walden Bello, Übersetzung: David Walch, Attac Österreich, 13.12.2019)