Wird am 19. Dezember 90: der große Schriftsteller Paul Nizon – über die Ewige Stadt.

Foto: Marko Lipus

Wer Rom nicht mit Sinnlichkeit verbindet, war noch nicht dort. Roma – Amor, dem Eros dieser Stadt können sich nicht einmal die unzähligen Kirchen verschließen. Der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon hat ein hochsinnliches, irrwitzig-sprachschöpferisches Hohelied auf Rom geschrieben.

Canto heißt das Buch, es wurde 1963 erstmals veröffentlicht. Jetzt zum 90. Geburtstag des Autors hat der Suhrkamp-Verlag eine Neuauflage herausgebracht. "Canto" – "ich singe", "Gesang", "Lied", "Gedicht", aber auch "Schrei". Nizon hat einmal gesagt: "Ich schreibe eine Ohrensprache, ich instrumentiere beim Schreiben." Nicht ein "Ich denke, also schreibe ich" treibt den Autor voran, sondern ein "Ich singe, ich dichte, also bin ich Gesang, Dichtung".

Die Rahmenhandlung in Canto ist an sich einfach: Ein aus der Schweiz stammender junger Künstler ist Stipendiat am Istituto Svizzero in Rom. 1960 hielt sich der Autor tatsächlich dort auf. Nizons Protagonist nimmt Rom wahr, erspürt, erblickt, erriecht die Ewige Stadt.

Dazwischen spricht er seinen toten Vater an, fast könnte man meinen, er schreibe ihm Briefe, berichte ihm das Erlebte. Aber was ist das Erlebte? "Und mitten am Tag war’s, Tag war’s, Palazzi, Kirchen, Ekklesien und Märkte, bleichte in der Sonne, dieses Himmels, der voll Meer ist, und wir die Klippe und die Tankstellen und die kolossalen Reklamen, meist mit Mädchen, liegenden, leuchteten im Tag. Hart und grell."

Stakkatoartige Impressionen

Das sind stakkatoartige Impressionen, aufs Papier geworfen. Wenn man einen literarischen Vergleich sucht, dann schreibt hier Nizon am ehesten noch in der Nachfolge expressionistischer Wortkunst.

Nur: Dem Canto geht nicht die Puste aus, es ist keinesfalls avantgardistische Kurzprosa, sondern ein 250 Seiten starker Text. Freilich, der Stream of Consciousness à la James Joyce umweht das Erlebte, doch das Ich des erzählenden Helden denkt nicht im Traum daran, sich im urbanen Dschungel aufzulösen.

Nizon geht anders vor: Dem Ich des Canto wird ein Ort in Rom bewusst, indem der Ort sich selbst dem Beobachter ins Bewusstsein drängt: "Du befindest dich auf so einem Platz, vielleicht ist es auf einem Platz mit Namen wie Piazza del Popolo oder Piazza Navona oder kleiner, nur fußgroß vielleicht, und da sticht die Flamme Bewusstsein empor und leuchtet das Leben aus auf eben diesem Platz oder Plätzchen, das Leben des Platzes und dein Leben da auf dem Platz, und schon sind beide verfesselt, sind zwei Bewusstseinssträflinge, handschellengeeint, der eine steht für den andern."

Nicht-Loskommen vom Großstadtgetümmel

Die Hauptfigur und ihr Autor haben eines gemeinsam: Ihre Antriebskraft ist eine stete "Urbomanie", wie es Nizon ausdrückt, also ein Nicht-Loskommen vom Großstadt- und Metropolengetümmel. Innerhalb dieses Magnetfeldes entsteht einerseits die "Schreibpassion".

Das ist: "Schreiben, Worte formen, reihen, zeilen, diese Art von Schreibfanatismus ist mein Krückstock, ohne den ich glatt vertaumeln würde." Andererseits gilt es angesichts der Sinnlichkeit Roms festzuhalten: "sage meine Vorkriegserotik‘ dazu oder mein Verdikt ‚Ebbe und Flirt‘ und liege auf der Lauer".

An dieser Stelle nimmt das Wort "Hurenhirt" Gestalt an. Als Leser ist man vielleicht etwas pikiert, doch es ist Nizons Held, der sich selbst so nennt: "der Hurenhirt oder Hirt der Huren geht zu Stunden, da Wohlanstand schläft, diesen Straßen nach".

Nizons Held ist allerdings kein Zuhälter, kein Lude – auf Schweizerisch nennt man diese dunkle Existenz allerdings euphemistisch "Mädchenhirt". Er flaniert durch die Ewige Stadt und wird dabei erotisiert von den römischen Frauenerscheinungen. Das kann man ihm nicht wirklich übelnehmen.

Allerdings kommt er tatsächlich auch in Kontakt mit Prostituierten. Die Schönste von ihnen heißt Maria. Sie ernährt mit ihrer Körper Arbeit die ganze Familie. Und da sie zu viel arbeitet, also zu oft auf den Strich geht, erkrankt und stirbt Maria.

Maskuliner Kitsch

Nizons Held besingt sie hymnisch: "Salve, Maria! Salve Maria in meinem Kopf, ich zerstöre, ich weihe das Pflaster, ich gründe die Stadt. Salve dem Romgründer, mir! O dass man einmauern könnte diesen Moment, über den ein einzelnes Blatt niederschaukelt. Siegle mir den Moment, Maria, pflanzen wir die Kathedrale."

Da ist durchaus maskuliner Kitsch im Spiel. Doch etwas wird klar: Nizons Held als "Hurenhirt" ist kein lüsterner Kunde, sondern selbsternannter Hirt der Prostituierten, also helfender Freund. Im Lukas-Evangelium umgibt sich Jesus – der "gute Hirte" – mit Sündern und Sünderinnen.

Das, was Nizons Held in Canto tut, denkt und schreibt, ist der Stadt Rom geschuldet: An diesem Ort gehen heidnische Sinnlichkeit und christliche Sinnsuche eine geheime Verbindung ein: Roma – Amor, eine fiebrige Kathedrale. Das Erstaunliche an Nizons Text ist, dass man ihm seine 56 Jahre nicht anmerkt.

Canto hat an Wortmächtigkeit und eigenwilliger Sinnenhaftigkeit nichts eingebüßt. Canto ist einfach Sprachkunst. Wie aber kam Paul Nizon auf den Titel? "Den Titel hatte ich zusammen mit Ingeborg Bachmann ausgeknobelt, mit der ich mich damals öfters traf." Die Bachmann, Nizons Schwester im Geiste, weil wie er von Rom in Sinnenhaft genommen. (Andreas Puff-Trojan, 19.12.2019)

Paul Nizon, "Canto". 21,– Euro / 250 Seiten. Suhrkamp, 2019
Cover: Suhrkamp