STANDARD: Labour-Chef Jeremy Corbyn hat nach seiner verheerenden Niederlage bei der Unterhauswahl beteuert, dass seine Partei doch eigentlich das richtige Programm für die Probleme des Landes hervorgebracht habe. Liegt er damit richtig?

Goes: Da bleiben schon noch sehr viele Fragen, auf die Labour eine Antwort finden muss. In Wahrheit war das Manifest (Wahlprogramm, Anm.) eine Art Adventkalender, wo sich jeden Tag ein neues Versprechen gefunden hat. Viele Wähler, vor allem die ohnehin schon politikskeptischen, haben sich gefragt, wo das Geld für all die kostenlosen Dinge herkommen soll, die Labour für die kommenden fünf Jahre versprochen hat. Ganz sicher hat der Brexit eine Rolle gespielt, ebenso sicher aber die Person Jeremy Corbyns, vor allem im Nordosten und in den Midlands.

STANDARD: Wie hat Labour Corbyns flatterhafter Brexit-Kurs geschadet?

Goes: Die Resultate zeigen, dass Labour in einigen "Remain"-Gegenden Stimmen verloren hat. Das ist klar Folge von Corbyns Unentschlossenheit. Die hat auch den "Leave"-Unterstützern in den Labour-Wahlkreisen im Nordosten nicht gefallen. Auch das Versprechen eines zweiten Referendums über den EU-Ausstieg kam dort nicht allzu gut an. Darüber hinaus sehen wir jetzt aber das Ende eines langen Entfremdungsprozesses zwischen Labour und der Arbeiterklasse in den nördlichen Regionen. Der hat schon zwischen 2001 und 2005 begonnen, als Labour fünf Millionen Stimmen verloren hat. Das größte Problem für Labour ist aber, dass man der Arbeiterklasse nichts mehr zu sagen hat, die seit der De-Industrialierung abgehängt ist. Als die großen Minen und Fabriken geschlossen wurden, hat man auch die Empathie und das Gemeinschaftsgefühl dieser Gruppe zerstört. Auf den Punkt gebracht ist Corbyn zwar für dieses Ergebnis verantwortlich, die Ursachen dafür liegen aber schon weit vor seinem Amtsantritt.

Schon fast weg: Jeremy Corbyn.
Foto: imago images/ZUMA Press

STANDARD: Wer könnte ihm nachfolgen, jemand aus Corbyns linkem Dunstkreis oder eher ein Zentrist?

Goes: Das ist noch ein wenig zu früh, die Partei braucht jetzt auf jeden Fall Zeit für Reflexion. Ich denke aber, dass ein oder eine "Corbynista" nur wenig Chancen hat. Lisa Nandy von der "soften" Linken könnte eine Option sein, sie hat ihren Sitz im Nordosten verteidigt. Der rechte Flügel könnte wohl Jess Philipps nominieren, dieser Teil der Partei, der weitgehend für "Remain" war, hat aber auch keine Antworten auf die Probleme der Partei vor allem im Nordosten des Landes. Keir Starmer ist natürlich auch immer ein Name, der auftaucht, er ist aber ein Mann, ein Remainer und aus London, was in diesem Fall gegen ihn spricht. Sehr wohl könnte er aber sozusagen unbeabsichtigt zum Parteichef werden, weil er in allen Teilen der Partei über Unterstützung verfügt.

STANDARD: Ist Johnson jetzt am Ziel angekommen, nämlich ein großer konservativer Regierungschef zu werden?

Goes: Er hat eine sehr große Mehrheit gewonnen, die durchaus mit jenen Margaret Thatchers vergleichbar ist. Er muss nun aber auch seine neuen Wähler im Nordosten und in den Midlands zufriedenstellen, die wohl alles andere als den von den Konservativen propagierten schlanken Staat und ein "Singapur an der Themse" wünschen. Johnson wird auch seine Ansichten zum Brexit anpassen müssen, vor allem was die künftige Zusammenarbeit mit der EU betrifft. Er muss sehr genau aufpassen, dass ein Deal nicht genau jene Gegenden schädigt, die ihn nun gewählt haben.

STANDARD: Manche Analysten sagen nun einen "softeren" Brexit voraus. Sie auch?

Goes: Es wird noch immer ein harter Brexit sein, etwa deshalb, weil die Tories ja klar auch aus der Hoheit des Europäischen Gerichtshofs austreten wollen. Einen soften Brexit wird es mit Johnson nicht geben, eventuell wird sich aber bei den Punkten Zollunion und Nordirland noch etwas tun. Was genau die Wahl nun bedeutet, wird sich erst zeigen.

STANDARD: Wo sehen Sie Schottland und Nordirland in zehn Jahren?

Goes: Nicola Sturgeon (Regierungschefin Schottlands, Anm.) hat ein sehr gutes Resultat erzielt, wir werden in den kommenden Jahren wohl ein weiteres Referendum über die schottische Unabhängigkeit erleben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Schottland früher oder später unabhängig wird, auch wenn das noch davon abhängt, welchen Brexit Johnson schlussendlich ausverhandelt. In Nordirland verlieren die radikalen Unionisten (London-loyale Parteien, Anm.) immer mehr Boden an moderate Kräfte, Nigel Dodds (Vizechef der DUP, Anm.) etwa hat seinen Sitz verloren. Es gibt dort auch einen Generationenwechsel, jüngere Wähler wollen nicht mehr von Nationalisten dominiert werden, sondern wünschen sich eine "normale" Politik. Falls es diese nur mit einer Vereinigung mit der Republik Irland gibt, würden sie diese wohl in Kauf nehmen.

STANDARD: Auf dem Kontinent herrscht ja bisweilen das Narrativ vor, dass die Mehrheit der Briten eigentlich gerne in der EU bleiben möchte.

Goes: Spätestens jetzt wissen wir, dass dieses Narrativ tot ist. Eigentlich war die Wahl am Donnerstag das Ende eines Prozesses, der beim Referendum 2016 begonnen hat. (Florian Niederndorfer, 13.12.2019)