Was früher des Architekten schwarzer Rollkragenpullover war, ist heute das ebenso pechrabenschwarz eingekleidete Buch. Die architektonische Buchsaison 2019 kommt recht düster daher – zumindest auf den ersten Blick. Spätestens mit dem Aufblättern lichtet sich die Stimmung, bekommen wir heuer doch ungeahnt intime Einblicke in die räumlichen und geistigen Innenwelten der baukulturell tätigen Menschen.

Was inspiriert einen Architekturschaffenden? Im Falle der beiden Vorarlberger Architekten Bernhard und Stefan Marte – der eine in die Kamera grinsend, des anderen Gesicht verschmitzt hinter der eigenen Hand verschwunden – kommt die Inspiration von überallher, von Steven Spielberg, von der bildenden Kunst, von der eigenen Familie, vom berauschenden Klang des Zweitakters im Motocross-Sport. Nachzulesen sind all diese Hintergrundgeschichten in den heuer erschienenen33 Interviews zur Architektur, die Martina Pfeifer Steiner mit viel Stringenz und Disziplin aus ganz Österreich (und aus einem kleinen Teil der Schweiz) zusammengetragen hat. Die spröde Struktur der fünf immergleichen Fragen schafft einen guten Überblick über die Unterschiedlichkeit des Denkens und Entwerfens.

Ruinen-Surrealismus von Edward Beierle und Jutta Görlich.
Foto: beierle.goerlich

Dass sich nicht nur die Architektur von Mensch zu Mensch unterscheidet, sondern auch der Blick auf ebendiese, beweist ein kürzlich veröffentlichtes Buch von Architekturjournalist Alexander Gutzmer und Immobilienentwickler Stefan Höglmaier. Unter dem wirklich unmöglichen Untitel Architekturkulturwerden auf knapp 300 Seiten verschiedene Werte, Zugänge und Rezeptionen in Bezug zueinander gesetzt – ob das nun Valerio Olgiati, David Chipperfied oder das Künstlerpaar Edward Beierle und Jutta Görlich sind, die sich seit über zehn Jahren durch Bayern recherchieren und dabei so manch wortlose Geschichte inszenieren: "Diese Bilder dokumentieren die Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber der sie umgebenden Welt."

Archaische Geheimnisse

Eine zentrale Rolle spielt das Bild auch in den zahlreichen Graphic Novels über Architektur, die sich in den letzten Jahren häufen. In Lucas Hararis Der Magnet ist Peter Zumthors berühmte Therme im Graubündner Bergort Vals die Hauptdarstellerin. Der sowieso schon bedeutungsaufgeladene Bau wird hier zusätzlich mit archaischen Geheimnissen angereichert. Die zeichnerische Linie und sternenklare Kolorierung sorgen für Klarheit im Mysterium. Da-Vinci-Code meets Minimalismus im Thermalwasser.

Den Geheimnissen eines abwesenden Architekten auf der Spur ist auch der österreichische Fotograf Wolfgang Thaler. Er hat schon lange ein Faible für die jugoslawische Moderne und spürt nun gemeinsam mit Jelica Jovanovic und Vladimir Kulic dem Architekten Bogdan Bogdanovic nach. Nicht über dessen Bauten, sondern über die private Bibliothek in der Belgrader Wohnung, die er bis 1993 bewohnte, als der deklarierte Miloševic-Gegner ins Exil ging. Der naheliegende Titel: BBBB – Bogdan Bogdanovic Biblioteka Beograd. Fotos der Wohnräume und Buchregale wechseln sich ab mit Abbildungen der Bücher selbst. Ein feinfühliges Requiem für den 2010 in Wien verstorbenen Bogdanovic, ein Buch über Räume mit Büchern über Räume darin. Spuren eines bewegten Lebens.

Peter Zumthors Therme als Comic-Darstellerin.
Foto: Edition Moderne

Einen ganz anderen Blick auf die Moderne wirft Albert Kirchengast in seinem Buch Das unvollständige Haus. Mies van der Rohe und die Landschaft. Die offenen Grundrisse und die ineinanderfließenden Räume des Bauhaus-Architekten, meint er, seien schon vielfach erforscht worden. Doch wie verhält es sich mit der Gegenüberstellung von Raum und Natur? "Das Farnsworth House ist, glaube ich, niemals wirklich verstanden worden", wird Ludwig Mies van der Rohe in Fußnote 900 (!) zitiert. "Ich selbst war in diesem Haus vom Morgen bis zum Abend. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, wie farbenprächtig die Natur sein kann." Ein wortgewaltiges Kompendium für Freaks und Nerds.

Wiener in L.A.

Auch ein junger Wiener machte sich im Oktober 1923 auf den Weg in die USA und schuf dort Ikonen der Moderne. Sein Name war Richard Neutra. 94 Jahre später reisen ein Fotograf und ein Kunsthistoriker aus Wien auf Neutras Spuren nach L.A. David Schreyer und Andreas Nierhaus versuchen in Los Angeles Modernism Revisited, dem "verführerischen Glitzern der Architektur-Ikonen zu widerstehen" und einen neuen Blickwinkel zu finden. Der eine durch Gespräche mit den Bewohnern, der andere durch Bilder, auf denen auch das Geschirrtuch und die Katze ihren Platz haben. Der Großartigkeit der Architektur tut diese alltägliche Wohnlichkeit keinen Abbruch.

Die Wiener Architekturforscherin Christiane Feuerstein wiederum erzählt in Turnaround Urbanismeine ganz andere Geschichte von Downtown Los Angeles, eine der Wege und Territorien, der Konflikte und Lösungsversuche. Die Stadt des Automobils wird der "Stadt der kurzen Wege" entgegengestellt, Bezüge zu den Krimiromanen des "L.A. noir" und dem Film Blade Runner zeigen, wie in dieser Stadt Realität und Fiktion ständig aufeinander reagieren.

Wolfgang Thalers Blick in die Wohnung von Bogdan Bogdanović.
Foto: Wolfgang Thaler

Blade Runner 2049 ist auch ein Kapitel im dunklen Monumentalwerk LAIR gewidmet, das die architektonischen Welten berühmter Filmbösewichte unter die Lupe nimmt. Natürlich mit James Bond, dessen Gegenspieler moderne Interieurs und Hightech-Futurismus bevorzugten, während Darth Vader sich gleich einen ganzen Stern aus Architektur baute. Bis hin zu Beispielen aus jüngster Zeit wie dem unheimlich-heimlichen Designlabyrinth im Künstliche-Intelligenz-Epos Ex Machina. Kiloschwer und komplett in Schwarz kommt das Buch zwar einen Tick zu selbstverliebt daher, aber eine Dosis Größenwahn ist dem Thema schließlich angemessen.

Radikal abstrakt

Auf planetarischer Ebene operiert auch der österreichische Architekt Theo Deutinger, der sich der Visualisierung weltpolitischer Daten verschrieben hat. Mit dem Ultimate Atlas: Logbook of Spaceship Earth setzt er jetzt nicht nur einen finalen Punkt hinter den publizistischen Trend, jedes zweite Buch als Atlas zu bezeichnen. Radikal abstrakt, schön, endgültig und binär schwarz-weiß bis zum Cover. Auf 70 Doppelseiten wird die Gegenwart mit dünnen vertikalen Linien abgebildet, die an Partituren Neuer Musik erinnern: Kontinente, Sprachen, Religionen, Waffenverkäufe, Internet-User. Die letzte Seite zählt Landungen auf außerirdischen Himmelskörpern (Spoiler: Es sind 85). Die Welt ist nicht genug. Der Raum ist unendlich, und rollkragenschwarz wie die dunkle Zeit des Jahres. Frohe Festtage! (18.12.2019)