Abgesang einer Ära: Kira Muratowas Gesellschaftsmosaik zur Perestroika, "Das asthenische Syndrom".

Foto: Filmmuseumn

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Es ist jene Zeit im Jahr, in der wir alle wieder zu Kindern werden. Die Frauenstimme, die das sagt, kommt aus dem Supermarkt. Die richtigen Kinder stehen draußen in der Kälte, es schneit, der Verkehr stockt. Die Kindergesichter spiegeln sich in den blankgeputzten Fenstern des Geschäfts wider. Autofahrer werden um ein paar Almosen angebettelt. Aber noch zwischen den Untersten herrscht in der Ukraine Konkurrenzdruck.

Melodie für einen Leierkasten (Melodiya dlya sharmanki) ist als Antiweihnachtsfilm schwer zu toppen. 2009 gedreht, entwirft der Film von Kira Muratowa ein Panoptikum eines von Eigennutz und Unsolidarität gezeichneten Landes. Von Dickens’ Humanismus ist wenig zu spüren, die beiden kindlichen Geschwister mit den Ringen unter den Augen, die nach dem nach Kiew emigrierten Vater suchen, stoßen fast nur auf Ignoranz. Aber in einem eisigen Loch Karten spielen, das geht auch nicht lange gut – also weiter!

Auf der Berlinale prämiert

Das Filmmuseum widmet der im Juni 2018 verstorbenen Filmemacherin derzeit eine höchst sehenswerte Retrospektive. Muratowa ist eine der großen, aber auch großen unbekannten Regisseurinnen des Kinos. Das asthenische Syndrom heißt ihr berühmtester Film, der 1990 auf der Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Während der Perestroika gedreht, ist er so etwas wie der letzte Filme der Sowjetunion, ein Stück "Chernukha" – ein pechschwarzes gesellschaftliches Mosaik, im Blick auf die Gefälle allerdings weniger naturalistisch denn von Gogol’scher Lust an grotesker Zeichnung getrieben.

Kira Muratowas Filmdebüt "Kurze Begegnungen" (1967).
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Muratowa hatte eine Karriere, in der sich die Geschichte festbiss. 1934 in Rumänien geboren, studierte sie in Moskau unter Sergei Gerassimov und kam schon mit ihren ersten Arbeiten in Konflikt mit der Nomenklatur. Kurze Begegnungen (1967), ihr Solodebüt über eine Dreiecksbeziehung, besetzte sie – zur Unfreude der Moralwächter – mit dem freimütigen Sänger und Dichter Wladimir Semjonowitsch Wyssozki. Langer Abschied (1971)verschwand 20 Jahre im Tresor.

Das lag wohl nicht zuletzt an der formalen Modernität, die Muratowas Studien etwas Widerspenstiges, ja Unbezähmbares verleihen. Statt sich dem sozialrealistischen Realismus anzudienen, entwirft sie in Langer Abschied das kubistische Porträt einer Mutter-Sohn-Beziehung, welche das offizielle Narrativ, dass alle an einem Strang ziehen, ironisch als reine Wunschvorstellung entlarvt.

Die Schnitte des Films wissen sozusagen mehr – sie halten nichts zusammen, was nicht zusammenpasst. Man erhält den Eindruck, die Menschen sind zu früh im Bild. So verraten sie ein ganzes Stück mehr über ihr Inneres. (Dominik Kamalzadeh, 14.12.2019)