In ersten Reaktionen auf den Wahlerfolg von Premierminister Boris Johnson war seitens der EU-Partner viel von "Klarheit" die Rede – und von nötigen "raschen Entscheidungen", die jetzt anstünden. Sosehr der Brexit sozial und wirtschaftlich auch schade, sei jetzt wenigstens die jahrelange politische Hängepartie zwischen Brüssel und London zu Ende: Zeit für die nächsten Schritte.

Das Argument hat viel für sich. Auch wenn der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs eine "Lose-lose-Situation" ist, unterm Strich beide Seiten verlieren, hat sich im Rest der EU ein Stimmungswandel eingestellt. Immer weniger konnten sich vorstellen, dass die Briten ihre Brexit-Entscheidung wieder zurücknehmen und mit ihrem zerrütteten Verhältnis zur Gemeinschaft, zum Euro, zu den Zielen auch einer politisch enger integrierten Union einfach so weitermachen wie bisher.

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Premierminister Boris Johnson.
Foto: AP Photo/Frank Augstein

Konkret: In Brüssel fragten sich zuletzt viele, was schlimmer wäre: ein EU-skeptischer Premierminister Jeremy Corbyn, der im Energie- und Eisenbahnsektor verstaatlichen wollte, statt Investoren anzulocken, der sich nicht klar zur EU bekennt? Oder der EU-Skeptiker Boris Johnson, der zum ungeregelten Freihandel neigt?

Beide Positionen entsprechen nicht gerade dem, was sich führende Regierungen in der EU für die Zukunft der Gemeinschaft vorstellen – voran Frankreich und Deutschland. Die EU ist nach der langwierigen Überwindung der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 und in einer global völlig veränderten Welt nicht in der Position, sich radikalen Illusionen hinzugeben – weder von links noch von rechts. Eben wegen dieser ökonomischen Rückschläge und der Lähmung durch ewige Brexit-Debatten mit den Briten hat die Union gewaltigen Aufholbedarf, was interne Reformen und neue politische Herausforderungen angeht.

Das wurde lange – viel zu lange – zugedeckt. Mancher Mitgliedsstaat, der den Weiterbau der EU nur allzu gerne blockierte, konnte sich bisher elegant hinter "den Briten" verstecken. London diente als Alibi für reformerischen Unwillen. Mit dem Brexit wird dieses Versteckspiel zu Ende gehen. Der EU-Gipfel hat schon angedeutet, dass es mit der angeblichen "Einheit" der EU-27 nicht weit her ist. Ob bei Klimaschutz, Kohleausstieg, Migrationspolitik, beim EU-Budgetrahmen, bei der nötigen Vollendung von Binnenmarkt oder Bankenunion, Maßnahmen zur Stärkung des Euro: Überall lauert Streit – auch ohne die Briten. (Thomas Mayer, 13.12.2019)