Im Gastkommentar ist sich Wissenschafter David M. Wineroither gewiss: Als agile politische Führungsfigur hat Wahlgewinner Boris Johnson auf der politischen Baustelle Vereinigtes Königreich nun einiges zu tun.

Cheers! Boris Johnson feiert den Wahlsieg, das Brit-Drama geht ins Finale.
Foto: imago/Andrew Parsons

Donnerstag wählte das Vereinigte Königreich zum dritten Mal binnen viereinhalb Jahren. In anderer Maßeinheit: binnen einer laufenden Legislaturperiode. Dieses Mal tatsächlich mit einem unstrittigen Sieger: Boris Johnson. Den Ausschlag zugunsten der Tories bewirkten zwei Aspekte: die höhere Wahlrechtskombinatorik im Brexit-Lager und das glaubhafte Versprechen des Amtsinhabers, dem Brexit-Tauziehen ein Ende zu bereiten – oder wenigstens den Anfang seines Endes einzuleiten.

Der Schattenwurf der Wahlrechtsarithmetik prägte diesen Urnengang. Der Wahlkampf verlief erstaunlich ereignisarm: Ausnahmen bildeten Gesundheitswesenaufreger und die Terrorattacke auf der London Bridge mit einer anschließenden Law-and-Order-Debatte. Davor und danach bestimmten allgemeiner Verdruss und Ermattung über das Brexit-Patt im Parlament die öffentliche Gefühlslage. Da kann es wenig überraschen, dass sich die Unterstützung der den Blöcken Leave und (eher) Remain zurechenbaren Parteien weitestgehend nach den Gesetzen kommunizierender Gefäße verhielt; das gilt ähnlich für die Gewichtung innerhalb der vier Landesteile: England als fester Brexit-Block, der Rest mit gegenläufiger Mehrheit (Schottland gefolgt von Nordirland) oder gespalten (Wales). So war es nach dem Referendum 2016 gewesen, so blieb es im Verlauf des Wahlkampfs 2019.

The winner takes it all

Unter den Bedingungen eines stark mehrheitsfördernden Wahlrechts fiel dem Schmieden von Bündnissen entscheidende Bedeutung zu. Sie fand auf der rechten Seite im Parteiensystem eine ebenso umfassende wie geradlinige Verwirklichung, indem die Brexit-Partei Nigel Farages im fortgeschrittenen Stadium des Wahlkampfs sämtliche Kandidaten aus von Konservativen gehaltenen Wahlkreisen zurückbeorderte. Ohne erhellende öffentliche Erklärung freilich. Man beschränkte sich fortan auf von Labour gehaltene Sitze in strukturschwachen Gegenden – dort, im Hoffnungsgebiet der Tories, vereinzelt im Nahkampf mit Johnsons Kandidaten. Dagegen reichte es im linksliberalen Lager nur zu einer Schmalspurvariante taktischer Zusammenarbeit. Die große Rochade unterblieb: Liberaldemokraten und Labour stiegen flächendeckend gegeneinander in den Ring. Das größere, aber breite und inhomogene Remain-Lager: halb von außen ausmanövriert, halb im Binnenverhältnis aufgerieben.

Labours Hängepartie

Handelt es sich, von der Arithmetik abgesehen, um einen Triumph des Populismus? Johnson fand den richtigen Ton gerade im Ablassen von jener brachialpopulistischen Rhetorik, die ihn noch im Sommer und Frühherbst ausgezeichnet hatte: Das antiparlamentarische Trommelfeuer wich einer vorwärts gerichteten Botschaft. Der zentrale Slogan, geschickt gewählt, lautete "Get Brexit done" – um anschließend, so der Botschaft zweiter Teil, segensreich wirken zu können. Das war nichts anderes als ein überdimensionaler Spiegel auf die Handlungsunfähigkeit der politischen Klasse. Herausforderer Jeremy Corbyn setzte dem einen neu aufgerollten Verhandlungsprozess mit anschließendem Referendum entgegen. Beim Wähler kam an: Zurück an den Start! Eine verheerende Botschaft: eine Hängepartie als Restglück eines zutiefst unpopulären Oppositionsführers.

Ereignisarm verlief dieser Wahlkampf, aber keineswegs inhaltslos: Johnson und Anhang verfochten eine Politik der Abkehr vom Mantra rigider Haushaltsdisziplin, welche die Cameron-Jahre geprägt hatte. Und die insgesamt für die grundsätzliche Ausrichtung der Tory-Politik der vergangenen Jahrzehnte zu stehen vermochte. Keine unrunde Sache: Bereits 2017 wanderten Arbeiter zu den Konservativen ab, einer Vorleistung Theresa Mays gedankt. Eine Kombination aus Leadership-Versprechen, Anti-Establishment-Image und moderater Defizitfinanzierung, wiederum als Versprechen, verhalf nun zu tiefen Einbrüchen in traditionellen Labour-Regionen.

Einheitsbewahrer Johnson?

Welche Folgen haften dem Ergebnis an? Die Wahrscheinlichkeit für einen vertragslosen Brexit bleibt gering, die britische Verhandlungsposition bleibt schwach. Hält sich Johnson auch nur annähernd an das versprochene expansive Programm, schrumpft der Spielraum für gewagtes Taktieren mit EU, USA und Co auch unter fiskalischen Gesichtspunkten. Bleibt die Frage nach der Stabilität der zweiten politischen Union, jener des Vereinigten Königreiches. Mit Westminster-Regierungssystem und Union, deren höchste Schutzbedürftigkeit vor der EU die Brexiteers propagierten, hatten die Neo-Tories ordentlich Schindluder getrieben im ablaufenden Jahr. Die Polarisierung half ihnen und in gleichem Maße den schottischen Nationalisten, die beinahe alles einsackten, was in ihrem Landesteil an Sitzen abzuräumen möglich war. Ein (Teil-)Zerfall ist mittelfristig nicht mehr auszuschließen, wenngleich die rechtlichen, ökonomischen und sozialen Hürden für ein unabhängiges Schottland beträchtlich sind. Besonders verwirrend, offen, ebenso aber brandgefährlich, zeigt sich die Lage in Nordirland; auch dort wurden die Unionisten deutlich geschwächt.

Der Sieg Johnsons beschreibt keinen Triumph des Populismus; eher spiegelt er wider, dass die politische Klasse in den Augen der meisten Wähler abgewirtschaftet hat. Das schafft Bedarf für agile politische Führungsfiguren: Bezeichnenderweise ist selbst aus den EU-Institutionen und EU-Mitgliedsstaaten ein deutliches Gefühl der Erleichterung über den eindeutigen Wahlausgang vernehmbar. Die beherrschende politische Baustelle dürfte sich nun Schritt für Schritt weg von den Bedingungen des EU-Austritts und der Ausgestaltung der Folgebeziehung hin zur Bewahrung der Einheit des UK verlagern. Dafür benötigte es einen Premier Johnson, der sich – wieder einmal – neu erfinden müsste. (David M. Wineroither, 13.12.2019)