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Ich wundere mich immer noch, dass bislang kein deutschsprachiger Verlag die "Pantheon"-Reihe von James Lovegrove übersetzen wollte. Die ist doch ungehobenes Gold: Action-geladen, mitunter ordentlich blutig – aber keineswegs dumpf, sondern mit schwarzem Humor und überraschenden Twists gewürzt. Der "Guardian" hat Lovegrove dafür das gehässige Kompliment gestreut: "This is the kind of complex, action-oriented SF Dan Brown would write if Dan Brown could write." Und es gibt reichlich davon, acht Romane und drei Novellen hat der Brite in den vergangenen zehn Jahren herausgebracht. Trotzdem sind sie allesamt – der Leser dankt – unabhängig voneinander zu lesen.

Das Worldbuilding verändert sich von Fall zu Fall, nur das Grundszenario bleibt das gleiche: Menschen treten mit ihren Mitteln (Militärtechnologie ausdrücklich inklusive) gegen Wesen mit übernatürlichen Kräften an. Das können die Asen ebenso sein wie die Götter des Alten Ägypten oder Erdmutter Gaia höchstselbst – und nicht immer sind die mythischen Wesen "echt". Beim Kampf bleibt dann kein Auge trocken. Das 2010 veröffentlichte "Age of Zeus" etwa, in dem eine paramilitärische Gruppe gegen die Götter des Olymp in die Schlacht zieht, könnte man für einen Zwilling von Garth Ennis' brutaler Comic-Reihe "The Boys" halten.

Rule, Britannia!

Das soeben erschienene "Age of Legends", mit dem die Reihe angeblich abgeschlossen sein soll, greift die Konstellation von "Age of Zeus" auf, kehrt allerdings das Vorzeichen um. Diesmal helfen wir zu den Geschöpfen aus der Mythologie, genauer gesagt aus der britischen Folklore. Elfenkönig Oberon gehört da ebenso dazu wie Robin Hood, der Däumling oder Jack Frost, die Verkörperung des Winters. De facto haben wir es also mit einer klassischen Superheldentruppe zu tun, die sich gegen die schwerbewaffneten Paladine des neuen britischen Regimes zur Wehr setzt.

Nach dem Brexit hat die faschistische Resurrection Party des neuen Premierministers Derek Drake in Großbritannien die Macht übernommen. Gestützt auf die Elitetruppe der Paladins (und die Ressentiments der Bevölkerungsmehrheit), hat Drake unzählige Menschen nicht-britischer Abstammung deportieren lassen. Der Roman beginnt mit einem Aufmarsch der Paladine im Hyde-Park, um die Papageienpopulation, die sich dort angesiedelt hat, abzuknallen. "Avian, Asian, whatever. You will not be tolerated here. This is not the place for you", fasst Drakes Bluthund Dominic Wynne die Aktion auf Lovegrove-typische Weise zusammen.

Die guten Kräfte sammeln sich

Drake, ein devoter Christ, der sich für den Retter Britanniens hält und tagtäglich mit dem Heiligen Gral spricht (welcher ihm auch antwortet!), ist eine der beiden Hauptfiguren des Romans. Die andere steht am entgegengesetzten Ende des gesellschaftlichen Spektrums. Die 18-jährige Ajia Snell, Tochter einer deportierten Inderin, schlägt sich als Fahrradkurier durch. Als sie wieder einmal ein Drake-kritisches Graffiti sprüht, wird sie erwischt und von der Polizei totgeprügelt. Doch damit ist es für sie nicht vorbei.

Ajia erwacht wieder zum Leben und stellt fest, dass sie nun die Fähigkeit hat, mit übermenschlichem Tempo zu laufen. Mr. Smith, der zu ihrem Freund und Mentor wird, erklärt ihr, dass sie die Inkarnation Pucks sei, des spitzbübischen kleinen Helfers König Oberons, der den meisten wohl aus Shakespeares "Sommernachtstraum" bekannt sein dürfte. Smith – seinerseits niemand anderer als Wieland, der Schmied – nimmt Ajia mit zu "ihrem" König Bron LeRoy alias Oberon, der schon eine stattliche Gruppe inkarnierter Folklore-Gestalten um sich versammelt hat. Ein Großteil des Romans dreht sich darum, wie sie quer durch Großbritannien reisen, um weitere Mitstreiter aufzulesen und sich den Paladinen zum Kampf zu stellen. Bis zum finalen Showdown und dem Versuch, Drake zu stürzen.

"Folklore ist Wahrheit"

Eidolons werden die wiedergeborenen Sagengestalten genannt. Und die seien mehr als nur Figuren, die sich irgendein Autor mal ausgedacht hat, wie Mr. Smith Ajia erklärt: "Fiction is a mere trickling stream. Folklore is a river that runs much deeper, with more powerful currents. It is an artery in the nation's body. It holds the lifeblood. 'The Lord of the Rings' is a story. Folklore is truth." Smith und LeRoy sind daher davon überzeugt, dass die Manifestation der Eidolons eine Abwehrreaktion sei, mit dem der "kranke" Körper Britanniens auf den Befall durch Drake und seine Faschisten reagiert. Drake hat seinerseits eine ganz andere Theorie ...

Folklore-Fex Terry Pratchett hätte sicher seine Freude damit gehabt, wer hier so alles zu einem Auftritt kommt. Wesen wie Pixies und Goblins, deren Wurzeln bis in eine vergessene prähistorische Vergangenheit zurückreichen, gehören da ebenso dazu wie der erst in der frühen Neuzeit aufgetauchte Kinderschreck Rawhead-and-Bloody-Bones. Der monströse Hund Black Shuck wiederum ist erst im 19. Jahrhundert so richtig populär geworden und würde sich gut für eine Episode der Reality-Show "Die Monster-Jäger" eignen.

Der Roman im Kontext

Als subtiles Statement Lovegroves darf man die multikulturelle Zusammensetzung der Eidolons werten. Man beachte: Wieland der Schmied stammt aus dem germanischen Sagenkreis, während viele der Elfen-artigen Wesen im Roman keltischen Ursprung haben. König Artus stand seinerzeit im Kampf gegen die Sachsen ... zu deren Fürsprecher dann Jahrhunderte später Robin Hood werden sollte, als sich im Land die Normannen breitgemacht hatten. Die "ur-britische" Folklore spiegelt Schicht um Schicht die Geschichte des Landes wider und ist letztlich weit vielfältiger, als es Drakes Geistesgenossen lieb sein kann.

"Age of Legends" wird aktuell in den Kontext der "Brexit-Literatur" gestellt, die in der SF eine Dystopie nach der anderen hervorbringt. Das ist zwar im Prinzip richtig, allerdings gab es dergleichen auch schon lange vorher. Die deutlichsten Parallelen scheint mir Lovegroves Szenario eigentlich zur Comic-Serie "V for Vendetta" zu haben, und die reicht immerhin bis in die frühen 80er zurück. Und noch eine – weitgehend in Vergessenheit geratene – Comic-Reihe aus den 80ern könnte "Age of Legends" beeinflusst haben: In Mike W. Barrs "Camelot 3000" wurden die Ritter der Tafelrunde auf einer düsteren Zukunftserde wiedergeboren – teilweise in überraschenden Körpern, ganz so wie hier.

Kleine Einschränkung

"Age of Legends" ist so unterhaltsam, wie man es von der "Pantheon"-Reihe gewohnt ist. Leider ist einer der wichtigsten Twists aber schon so früh erkennbar, dass er dann keinerlei Überraschung mehr bieten wird. Und die Auflösung, wie es nun wirklich zur Entstehung der Eidolons kam, ist auch nicht sonderlich überzeugend abgewickelt. Sollte dies tatsächlich der letzte Roman der Reihe bleiben, dann ist es natürlich schade, dass just der Schluss vom Schluss kein Highlight bietet. Aber irgendwann ist ein Autor wohl mit jeder Idee durch. Dessen ungeachtet bleibe ich bei meiner Grundthese: Die "Pantheon"-Reihe würde sich für eine Übersetzung lohnen, weil sie einfach Spaß macht.