Der einzige Passagier in diesem Fahrzeug ist blind.

Foto: Waymo

Es ist schon skurril: Ausgerechnet an jenem Ort, wo gerade einige der schlauesten Köpfe unserer Zeit die menschliche Mobilität neu erfinden, scheint die Zeit teils stehengeblieben: Die breiten Straßen im Silicon Valley sind von Schlaglöchern übersät und nicht nur zur Rushhour hoffnungslos überlastet. Jede Überquerung der Hauptschienenverbindung zwischen Nord und Süd in der Bay Area ist ob fehlender Tunnel und Brücken für alle Verkehrsteilnehmer gefährlich. Der dieselbetriebene (!) Caltrain hupt deshalb fast durchgehend, wenn er durch Städte wie Palo Alto brettert.

Gepaart mit dem beeindruckenden Know-how von Universitäten wie Stanford und Berkeley, den Unmengen an Risikokapital und der typischen Start-up-Mentalität ist der Frust über den Status quo vielleicht gerade der Grund, warum hier so viel Innovation stattfindet und so viele autonome Autos herumfahren wie sonst nirgends.

Das erste Mal ohne Lenker, für viele ein besonderes Erlebnis.
Waymo

Im Silicon Valley versucht die Industrie derzeit gleich vier große Herausforderungen gleichzeitig zu meistern. Elektrifizierung und Autonomie von Fahrzeugen bei gleichzeitiger Reduktion des Verkehrsaufkommens durch einen Ausbau der Sharing-Möglichkeiten. Ziel ist also ein autonomes E-Auto, das Menschen – ähnlich wie ein Uber – schnell und günstig von A nach B bringt und das eigene Auto zusehends obsolet macht.

Die meisten der über 40 Unternehmen, die sich derzeit direkt mit Soft- und Hardware für autonome Fahrzeuge beschäftigen, sowie hunderte Zulieferer sind vor allem deshalb in Kalifornien ansässig, weil neben dem vorhandenen Know-how auch die liberalen Behörden relativ schnell Lizenzen für Tests und Markteintritte ermöglichen. Die Einheimischen haben sich so längst an die verschiedenen Flotten der Autonomen wie Zoox, Aurora, Waymo, Tesla, Uber und Co gewöhnt. Nur Touristen zucken gelegentlich noch ihr Smartphone, wenn eines der mit zahlreichen Kameras und Radars gespickten Autos Menschen über einen Zebrastreifen gehen lässt.

Ob Nacht oder Tag, ist der Software egal.
Zoox

Den Mensch vom Fahrersitz verbannen

Noch sitzen sicherheitshalber Menschen hinterm Steuer. Meist sind es Mitarbeiter, weil etwa die Tests der Alphabet-Tochter Waymo mit externen Testpersonen zeigten, dass diese sich sofort so wohl und sicher fühlten, dass sie nicht nur regelmäßig zum Handy oder zur Zigarette griffen und die Straße keines Blickes mehr würdigten. Sogar beim Schminken und Schlafen wurden Personen gefilmt.

Tatsächlich haben die verschiedenen Firmen jeweils bereits mehrere Millionen an unfallfreien Kilometern auf offener Straße und um ein Tausendfaches mehr in Simulationen bestritten. Dadurch werden die blinden Flecken auf der Landkarte immer weniger und die Erfahrung der Algorithmen größer – wodurch das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer immer besser prognostiziert werden kann. Wenn es krachte, waren fast ausschließlich Menschen in anderen Fahrzeugen schuld – solche, die ohne Computerunterstützung unterwegs sind.

Lidars für den 360-Grad-Blick

Der Vorteil der datenbasierten Auswertung sogenannter "corner cases" – also von Grenzfällen, die in keinem Lehrbuch stehen und die Menschen meist intuitiv lösen – ist, dass sie nicht jedes Auto selbst erleben muss. Es reicht, wenn ein Fahrzeug der jeweiligen Autonomieflotte einmal einen 50 Zentimeter im Boden versenkten Bauarbeiter im Straßengraben als solchen erkannt hat. Er wird künftig nicht mehr als akute Bedrohung gelabelt, die in den nächsten Sekunden in den Fahrweg rennen wird – wie es etwa bei einem Kleinkind der Fall sein könnte.

Dennoch gibt es nach wie vor zahlreiche Herausforderungen in der realen Welt, was vor allem daran liegt, dass Menschen eben immer wieder Verkehrsregeln missachten. So gab es etwa Fälle, wo ein autonomes Fahrzeug am Auffahren auf den Highway scheiterte, weil kein Lenker – trotz korrekt gesetzten Blinkers – den notwendigen Platz zum Einreihen hergeben wollte. Gefürchtet bei den Softwareentwicklern sind auch ungeregelte Kreuzungen mit großem Fußgängerverkehr. Wer sich da beim Abbiegen nicht irgendwann mit leichtem Anfahren ein wenig Respekt verschafft, könnte in Städten wie New York teils stundenlang zum Stillstand verdammt sein. Doch auch da werden die Autos schlauer, weil es immer bessere Daten gibt.

Zoox

Dass die Daten immer besser werden, liegt in erster Linie an den verbesserten und immer günstiger werdenden Sensoren, allen voran den effektiven Lidar-Systemen. Lidar steht für "light detection and ranging". Es handelt sich also um eine optische Abstands- und Geschwindigkeitsmessung, die mittlerweile so weit perfektioniert wurde, dass auch dichter Schneefall und große Regentropfen keine Abweichung mehr auslösen. Durch Anbringen auf dem Dach ist ein permanenter 360-Grad-Blick auf die unmittelbare Umgebung garantiert, der autonomes Fahren überhaupt erst ermöglicht. Doch wie autonom sind die Fahrzeuge heute wirklich schon?

Autonomielevel

Teslas Autopilot entspricht derzeit in etwa einem Level zwei auf der fünfstelligen Skala. Das Auto fährt zwar schon weite Strecken allein, die Menschen müssen aber permanent auf die Straße achten und hin und wieder assistierend eingreifen. Level drei erlaubt es, die Hände permanent vom Lenkrad zu nehmen und erst nach Aufforderung wieder auf den Verkehr zu achten. Es ist jener Level an Autonomie, der in Tests bereits ganz gut funktioniert, aber noch zur absoluten Marktreife hin perfektioniert werden muss. Während ein autonomes System, das sogar Schlafen am Steuer (Level vier) erlauben würde, in absehbarer Zeit und in einem abgeschlossenen geografischen Gebiet realisiert werden könnte, sind sich die meisten in der Branche einig, dass Level fünf noch Jahrzehnte dauern dürfte. Es sind dies die futuristischen Konzepte ohne Lenkrad und andere Instrumente zur Beeinflussung des Fahrtweges, die aufgrund der horrenden Kosten für Forschung, Entwicklung und Kartografie vielleicht nie kommen werden.

1,3 Millionen Verkehrstote jährlich

Zwar haben verschiedenste Hersteller in den vergangenen Monaten und Jahren ihre Prognosen für Level drei immer wieder um ein paar Jahre nach hinten korrigiert – im Valley zweifelt aber kaum jemand mehr an der Notwendigkeit dieser Systeme. Hauptargument ist der Sicherheitsaspekt. Zwar werden auch autonome Systeme nie hundertprozentig unfallfrei sein und auf ihrem Weg den ein oder anderen kontroversen Unfall fabrizieren, der Faktor Mensch bleibt aber das höchste Sicherheitsrisiko.

Mehr als 1,3 Millionen Menschen starben im vergangenen Jahr im Straßenverkehr weltweit – ganze 40 Millionen wurden verletzt. In circa 94 Prozent der Fälle galt menschliches Versagen als die Ursache! Menschen fahren zu schnell, sind abgelenkt und schätzen Gefahren falsch ein oder reagieren zu spät. Eigentlich sollten sie nichts hinter dem Steuer verloren haben, könnte man meinen.

"Wenn mein zweijähriger Sohn einmal 16 Jahre alt ist, wird er kein Auto mehr fahren dürfen", sagt auch Hadi Nahari. Der Gründer und CEO von Cognomotiv betreibt mit seiner Firma die derzeit wohl ausgefeilteste Fehlersuche für Software in autonomen Fahrzeugen. Der Bedarf dafür ist riesengroß. Brauchte man für die Software zur Mondlandung 1969 in etwa 40.000 Zeilen an Code, stecken heute in jedem selbstfahrenden Auto mindestens 380 Millionen Zeilen. Weil es dabei immer wieder zu Fehlern kommt, ist es wichtig, diese schnellstmöglich zu diagnostizieren und den Softwareentwicklern zum Ausbessern vorzulegen. Seine Zuversicht in Bezug auf autonome Fahrzeuge beschreibt Nahari so: "Was 2006 mit den Handys passierte, passiert gerade mit den Autos da draußen", und die wenigsten würden es wahrhaben wollen. Im Auge des Sturms erkenne man diesen oft nicht.

Auch in puncto Datensicherheit gilt es hierbei, vertrauensfördernd zu wirken. Das Team des Österreichers Florian Neukart, seines Zeichens Direktor der VW Group Advanced Technologies, sieht einen der zahlreichen künftigen Anwendungsbereiche der Quantencomputertechnik eben auch in der Verschlüsselung von Mobilitätsdaten. Nur so wird eines Tages jener Level an Sicherheit erreicht werden, der das Gewohnheitstier Mensch überzeugt, das Lenkrad aus Selbstschutz wieder abzugeben.

Kleiner Lebensretter

Wer tatsächlich wie weit in Sachen autonomes Fahren ist, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Der Mantel der Verschwiegenheit schwebt über den Geheimnissen und neuesten Fortschritten der Industrie – sie alle wissen um die Milliarden, die der ersten serienreifen, tatsächlich autonomen Software winken. Doch eins ist klar: Auch wenn in wenigen Jahren erste autonome Fahrzeuge die Straßen sicherer machen, bis ein substanzieller Anteil der Pkws durch autonome Fahrzeuge ersetzt ist, wird es noch Jahrzehnte dauern. Wenn bis dahin nicht jährlich mehr als eine Million Menschen im Straßenverkehr ums Leben kommen soll, braucht es Alternativen.

Der kleine Unfallvermeider fällt fast nicht auf.
Foto: Nauto

Eine solche ist Nauto. Der kleine, leicht nachrüstbare KI-Kameraassistent des österreichischen Firmengründers Stefan Heck sorgt im Silicon Valley derzeit für Aufsehen, sollen mit dem System nämlich jetzt schon 50 Prozent aller Unfälle vermieden werden können. Mit verbesserten Algorithmen will man bald sogar 80 Prozent der Crashes verhindern. Am Frontspiegel angebracht, filmt eine Kamera den Fahrzeuginsassen – und mit einem 180-Grad-Blick alles, was sich vor oder seitlich des Fahrzeugs abspielt. Der Fahrer wird so nicht nur per akustischen Signal gewarnt, wenn er einzuschlafen droht, aufs Handy starrt oder zu lange seitlich aus dem Fenster schaut, sondern auch wenn Autos abrupt bremsen oder Fußgänger zwischen parkenden Autos auftauchen. "Ich sehe es als einen Zwischenschritt zu den vollautonomen Fahrzeugen, die eines Tages noch mehr Unfälle vermeiden werden", sagt Heck zum STANDARD. Der ehemalige Stanford-Professor wurde als Radfahrer durch einige Beinahe-Kollisionen mit unachtsamen Autofahrern zu seiner Erfindung ermutigt. Viele Vorteile autonomen Fahrens könne man heute schon nützen und zeitgleich die Algorithmen der Zukunft trainieren, indem sie von den besten Autofahrern lernen, ist Heck überzeugt.

Bisher wird der kleine Unfallvermeider bei mehr als 400 Firmenflotten wie Taxiunternehmen, Lieferfirmen oder Reiseunternehmen eingesetzt. Heck kann sich aber durchaus vorstellen, auch die Fahrten von Privatpersonen mit dem Gerät sicherer zu machen. In Österreich scheiterte eine Zulassung bisher am Dashcamverbot, obwohl das Gerät nur jene Sekunden speichert, die potenzielle Gefahrensituationen zeigen.

Nauto

Wehrten sich anfangs einige Kunden noch gegen die permanente Assistenz im Auto, erkannten sie meist schnell, um wie viel sicherer diese den Alltag machte. Mehr als 82 Millionen Mal schlugen Nautos Warnsysteme in den vergangenen Jahren bereits an und sorgten damit für geschätzte Einsparungen von weit über 100 Millionen Euro. Bis der Computer dem Menschen die gesamte Arbeit abnimmt, wird es noch ein paar Jahre dauern. Bis dahin sollten Menschen jedwede Unterstützung annehmen, um auf den Straßen weniger zu töten. (Fabian Sommavilla aus Palo Alto, 18.12.2019)