Ende der Nullerjahre waren Spiele unabhängiger Entwickler noch die Ausnahme und originelle, aber höchstens Eingeweihten bekannte Exoten. Ein Jahrzehnt später sieht die Welt der Videospiele anders aus: Die großen Publisher haben sich auf einige wenige lukrative Riesenfranchises beschränkt, ihre kleineren Studios geschlossen und alles unterhalb der Blockbuster-Marke den Unabhängigen überlassen. Die finanzieren sich mit Crowdfunding, Early Access oder schlichter Selbstausbeutung, liefern von ambitionierten Hochglanzspielen knapp unterhalb der Großen bis hin zu pixelig hingerotzten Einmannproduktionen geschätzte 98 Prozent der erscheinenden Spiele und sind im Kampf um Aufmerksamkeit und schwindende Mittel in Zeiten der Indiepocalypse ironischerweise wieder von "Indie-Publishern" oder Plattformbetreibern wie Apple oder Arcade abhängig geworden.

Trotzdem: Die Zehnerjahre waren das Jahrzehnt von Indie. Zehn außergewöhnliche Spiele unabhängiger Entwickler aus den letzten zehn Jahren stehen hier stellvertretend für eine lebendige, kreative und stets überraschende Szene, die sich längst vom Underground zum alternativen Mainstream entwickelt hat – und ihrerseits mächtige Inspiration für den Hochglanz-Mainstream geworden ist.

"Spelunky"

Eigentlich stammt die erste, kostenlose und retro-pixelige Inkarnation von Derek Yus einflussreichem "Rogue-lite" bereits aus dem Jahr 2008, doch mit der ersten kommerziellen, überarbeiteten Version von 2012 beginnt der Siegeszug des neuen, alten Spielkonzepts, das seitdem nicht mehr totzukriegen ist und ein wahrer Megatrend im Gamedesign geworden ist.

Als Blaupause für unzählige Titel seither verbindet Spelunky simples, aber motivierendes Plattformer-Gameplay mit dem Metagame eines der ältesten Rollenspielgenres der Gamesgeschichte, den Rogue-likes. Das heißt: Permadeath, Zufallsgenerierung, starker Fokus auf abwechslungsreiche Items und Fertigkeiten. Und: ein Hauch von Permaprogression sowie der Geniestreich des "Daily Run". Zweifellos eines der einflussreichsten Spiele des Jahrzehnts.

GOG.com

"Minecraft"

Auch Minecraft wurde bereits Ende der Nullerjahre geboren, doch erst Anfang der Zehnerjahre wurde das Spiel, das als eines der Allerersten in einer Art Proto-Early-Access verkauft und finanziert wurde, zum globalen Phänomen. Müßig, heute noch viele Worte zu diesem Spiel zu verlieren, das Millionen Menschen bezaubert, hunderte zu Youtube-Stars und seinen Schöpfer, Marcus "Notch" Persson, zum unglücklichen, einsamen Milliardär in einer Los-Angeles-Villa mit unzähligen Bonbonautomaten gemacht hat.

Der kommerzielle Erfolg von Minecraft, das schon vor dem Milliardenverkauf an Microsoft im Jahr 2014 seinen Schöpfer reich gemacht hatte, diente fortan als Blaupause für den Traum unzähliger hoffnungsfroher Indie-Entwickler: vom Indie-Game-Designer zum Millionär.

TeamMojang

"Dear Esther"

Auch der "Ur-Walking-Simulator", 2012 kommerziell erschienen, hat seine Wurzeln in den Nullerjahren, doch das aus dem 2008 als Half-Life 2-Mod entstandene narrative Projekt des britischen Entwicklerstudios The Chinese Room unter Dave Pinchbeck entfaltete seine große Ausstrahlungskraft erst, als es seine revolutionäre Friedfertigkeit mit spektakulärer Optik und dem immer noch unfassbar guten Soundtrack von Jessica Curr verband.

Es mag heutigen Spielerinnen und Spielern nicht revolutionär vorkommen, dass in First-Person- oder anderen Actionspielen auch explorative, meditative Passagen vorkommen, in denen statt rasanter Action oder Rätseln die Erfahrung des Raums an sich im Zentrum steht – und doch hat erst Dear Esther beinahe für sie alle den Weg bereitet. Immer noch eine beeindruckende Erfahrung.

brisck1

"Gone Home"

Für die Kollegen von Polygon ist Gone Home das "wichtigste Spiel des Jahrzehnts", zu den wichtigsten Indiespielen der letzten Dekade zählt es ohne Zweifel. Das auf den ersten Blick wie ein gruseliges First-Person-Horrorspiel aussehende Game ehemaliger Bioshock-Entwickler entpuppt sich 2013 als intime, berührende und clever erzählte queere Coming-of-Age-Geschichte, die zugleich eine Zeitkapsel in die Jugendkultur der 90er-Jahre ist.

Mit Firewatch, Life is Strange, What Remains of Edith Finch und Night in the Woods haben namhafte andere Indie-Bestseller das fortgeführt, was Gone Home ins Medium gebracht hat: einen unspektakulären, aber dafür umso revolutionäreren thematischen Realismus, der das echte Leben widerspiegelt. Kurz: Videospiele, die vom ganz normalen Leben erzählen.

TheFullbrightCompany

"Papers, Please"

Wenn es um Politik in Videospielen geht, kommt mit Garantie der Verweis auf das 2013 erschienene kleine Spiel des US-Einzelentwicklers Lucas Pope. Als Grenzbeamter des fiktiven kommunistischen Staates Arstotzka ist man für die Ein- und Ausreise der Bürgerinnen und Bürger in den repressiven Staat zuständig, eine Aufgabe, die sich sowohl in rasch komplexer werdenden Gameplay-Aufgaben als auch in moralischen Entscheidungen niederschlägt.

Wie ist es, ein kleines Zahnrädchen in einem diktatorischen Regime zu sein? Was kann ich ändern, welche Repressionen bin ich bereit, für meinen Widerstand hinzunehmen? Papers, Please hat das Kunststück geschafft, die Interaktivität des Mediums dafür zu verwenden, reale machtpolitische Mechanismen erfahrbar werden zu lassen – ein Kunststück, das selten versucht wird und umso seltener gelingt.

dukope1

"Undertale"

Wer das minimalistisch illustrierte, 2015 erschienene Retro-Rollenspiel Undertale – "the role-playing game where you don't have to kill anyone!" – nicht selbst gespielt hat, schüttelt den Kopf über seine unfassbare Popularität, die unter anderem dazu geführt hat, dass Fans des kleinen Spiels in einem berüchtigten "Best Game Ever"-Thread klassische Gameslegenden wie Zelda und Super Mario auf die unteren Treppchenplätze verwiesen.

Wer Undertale hingegen kennt, weiß, dass das schon in Ordnung geht: Es ist die Liebe, die dieses Wunder ermöglicht hat – die Liebe zu einem Spiel, das selbst so liebevoll, sanft humorvoll und wunderbar ist, dass man es nur als außergewöhnliches Phänomen zur Kenntnis nehmen kann. Ein sehr spezielles Spiel.

FwugRadiation

"Kerbal Space Program"

Wenn ein Indie-Spiel mit der Nasa zusammenarbeitet, ist das schon etwas Besonderes – genauso wie Kerbal Space Program selbst. Das unwahrscheinlich komplexe Sandbox-Spiel, in dem man mit kleinen Aliens, den Kerbals, realistisch simulierte Weltraummissionen startet, ist seit Anfang des Jahrzehnts ein Geheimtipp für jene Spielerinnen und Spieler, die sich auch schon in anderen hyperambitionierten Indie-Unikaten wie Dwarf Fortress mit Geduld, Inspiration und stundenlanger Hartnäckigkeit mit der Arbeit an kompliziertesten Projekten die Nächte um die Ohren schlugen. 2015 war das lange Jahre im Early Access entwickelte Spiel final, im August 2019 wurde ein Nachfolger angekündigt. Vorsicht: Hier lernt man etwas – und hat Spaß dabei.

Xbox

"Stardew Valley"

Als Einzelner mit einem Indiespiel zum Millionär werden – Eric Barone hat es geschafft. Sein 2016 veröffentlichtes Herzensprojekt Stardew Valley, eine liebevolle Hommage an die Konsolenhits Harvest Moon und Animal Crossing, eroberte zuerst den PC und anschließend alle anderen Plattformen. Das Bauernhofspiel ohne Stress ist ein Indie-Blockbuster, der zwar nicht an die unfassbare Erfolgsgeschichte von Minecraft heranreicht, aber seinen Entwickler vom einsamen Ringen mit dem Burnout hin zum kommerziellen Erfolg als Indiestar geführt hat – ein lesenswertes Porträt des Einzelgängers zeichnet ein einfühlsames Bild von einem Menschen, der hervorragend zu seinem Spiel passt. Ein Feelgood-Spiel mit universalem Appeal.

ConcernedApe

"Rocket League"

Manche Ideen sind so einfach, dass man erst im Nachhinein ihre Genialität erkennt. Fußball plus Autos – that's it. Rocket League ist ein Phänomen, das seinen Überraschungserfolg als Multiplayerhit auch einem cleveren Vertriebstrick verdankt: Im Juli 2015 erschien das Spiel zugleich kommerziell als auch als kostenloses Spiel für PS-Plus-Abonnenten – und konnte sich schon im Dezember des Jahres über 50 Millionen Dollar Gewinn freuen. Portierungen auf alle anderen Plattformen folgten, eine millionenfache Fangemeinde spielt und spielt und spielt. Im Jänner 2018 wurde die Marke von 40 Millionen Spielern überschritten und über zwei Milliarden Partien absolviert.

PlayStation

"PlayerUnknown’s Battlegrounds"

Die PC-Modszene ist eine Art kreative Ursuppe, aus der im Lauf der Jahrzehnte schon gewaltige Games-Bestseller ans Land des Mainstreams gekrochen kamen – von Counter-Strike über das gesamte MOBA-Genre bis hin zu DayZ. Auch PUBG, auf gewisse Weise indirekt ein Enkel des mit DayZ populär gewordenen Sandbox-Survival-Genres, stammt aus der Welt des ArmA-Moddings, darf sich aber wegen einiger entscheidender Design-Twists als Urvater des Battle-Royale-Genres bezeichnen – auch wenn ihm, kurz nach EA-Release 2017, Epics recht schamlos abgekupferte F2P-Variante Fortnite den Rang als größtes Spiel der Nische wieder ablaufen sollte.

Trotzdem: Seit Minecraft hat sich kaum ein Indie-Spiel, als das sich PUBG ursprünglich auf jeden Fall bezeichnen konnte, als derart erfolgreich, weil – eine plausible Theorie – zugleich auch so absolut streamingtauglich erwiesen. Auch wenn der BR-Hype irgendwann wieder abklingen sollte, bleibt PUBG als einflussreichstes Multiplayerphänomen der späten Zehnerjahre vermutlich noch länger eine quicklebendige Legende.

Die Community ist gefragt!

Rankings sind subjektiv – besonders wenn das Feld so gewaltig ist. Welche Indies zählen Sie zu den wichtigsten des letzten Jahrzehnts? (Rainer Sigl, 5.1.2020)

PC Gamer