Bild nicht mehr verfügbar.

Nachdem sich das britische Parlament konstituiert hat, soll gleich mit den großen Brocken gestartet werden.

Foto: AP / STAVRAKIS

So viel Wandel gab es lange nicht mehr: Wenn am Dienstag die frischgewählten Abgeordneten des britischen Unterhauses zu ihrer ersten Sitzung zusammentreten, werden 155 Newcomer dabei sein. Zu ihnen gehören 109 neue Vertreter der konservativen Partei unter Premierminister Boris Johnson, darunter viele junge Leute und deutlich mehr Frauen als bisher. Bei den Oppositionsfraktionen von Labour und Liberaldemokraten hat das vermeintlich schwächere Geschlecht sogar die Mehrheit.

Am Montag bevölkerten die insgesamt 650 Volksvertreter wieder den Palast von Westminster, nahmen an Einführungssitzungen teil und suchten nach Büroraum. Er fühle sich "wie am ersten Schultag", berichtete Andy Carter strahlend der BBC. Offenbar teilten viele der Neulinge dieses Gefühl, was wohl mit dem neugotischen Labyrinth an der Themse zu tun hat: Darin haben sich schon Generationen frischgebackener Parlamentarier verlaufen. Die frühere Sport-Staatssekretärin Tracey Crouch hat deshalb einen guten Rat für die jungen Kollegen: "Gehen Sie zu jedem Termin zehn Minuten vor der Zeit, denn Sie werden sich verlaufen."

"Parlamentsbaby"

Das Parlament mag ungewohnt sein, die Politik ist es für die meisten nicht. Die Tochter eines walisischen Tory-Abgeordneten des vorigen Jahrhunderts, Fay Jones, 34, ließ sich mit zwei Kolleginnen auf den grünen Parlamentsbänken ablichten: "Drei Neue am ersten Schultag." Hingegen hat Sara Britcliffe, 24, geschafft, was ihrem Vater verwehrt blieb: Die Wählerschaft im nordwestenglischen Hyndburn schickte die Betreiberin eines Sandwichshops nach Westminster.

Den etwas dubiosen Status des "Parlamentsbabys" genießt allerdings keine Tory-, sondern die Labour-Abgeordnete Nadia Whittome, 23 Jahre alt. Im Vergleich zu ihr ist die 2015 gewählte und immer noch erst 25-Jährige schottische Nationalistin Mhairi Black bereits eine Veteranin. Die beiden haben vieles gemeinsam, nicht zuletzt ihre starke soziale Ausrichtung. Whittome hat angekündigt, sie werde lediglich den statistischen Durchschnittslohn von jährlich etwas mehr als 35.000 Pfund (41.870 Euro) in Anspruch nehmen, also deutlich weniger als die Hälfte des ihr zustehenden Gehalts von derzeit 79.468 Pfund.

Erste Sitzung

Am anderen Ende der Altersskala wird Peter Bottomley, der dem Unterhaus ohne Unterbrechung seit 1975 angehört, als Alterspräsident die erste Sitzung leiten. Traditionsgemäß steht als erster Punkt die Wahl des Speakers auf der Tagesordnung. Dabei handelt es sich freilich, sollte er wieder antreten, um eine reine Formsache, schließlich hat der frühere Labour-Mann Lindsay Hoyle erst im November den legendären Tory John Bercow abgelöst.

Zur neuen Buntheit des Parlaments zählt eine Vielzahl von Angehörigen ethnischer Minderheiten ebenso wie die mehr als 50 homosexuellen Abgeordneten. Tory Jacob Young, 26, freut sich schon auf die Heirat mit seinem Partner Jack in der Marienkapelle im Parlamentspalast. Britische Medien halten auch für berichtenswert, dass deutlich mehr als die Hälfte der Tory-Abgeordneten Staatsschulen besucht haben. Hingegen besteht das Kabinett noch immer überwiegend aus Absolventen von Privatschulen. Der Premierminister Boris Johnson selbst besuchte vor 40 Jahren das Elite-Internat Eton.

Die vielen fröhlichen und jungen Gesichter auf den Regierungsbänken dürften den Frust auf der gegenüberliegenden Seite, den Oppositionsbänken, noch verstärken. In der stark geschrumpften Labour-Fraktion gibt es Stimmen, die Parteichef Jeremy Corbyn mit sofortiger Wirkung die Leitung der Fraktion im Unterhaus entziehen wollen. Da es nach dem Rückzug von Tom Watson derzeit keinen Partei- und damit auch Fraktionsvize gibt, wird die frühere Vizevorsitzende Margaret Beckett, 76, als Übergangschefin gehandelt.

Wahlversprechen einlösen

Die Veteranin wäre eine würdige Repräsentantin des neuen Feminats bei der Arbeiterpartei: 51 Prozent der 202 Labour-Abgeordneten sind Frauen, in der winzigen liberalen Fraktion stellen sie sogar sieben von elf Vertretern.

Premier Johnson legte seine Fraktion zur Begrüßung auf eine rasche Umsetzung der Wahlversprechen fest. Bereits am Freitag soll das EU-Austrittsgesetz im Parlament eingebracht werden. Die Verabschiedung in dritter Lesung wird sich wohl frühestens im Jänner ausgehen. Das Gesetz wäre dann endgültig durchs Parlament.

Die versprochenen Milliarden für das schwächelnde Gesundheitssystem NHS sollen ebenfalls gesetzlich festgeschrieben werden. Arbeit haben die Neulinge also viel vor sich. (Sebastian Borger aus London, 16.12.2019)