Die 2007 gegründete Menschenrechts- und Hilfsorganisation Global Family bringt Hoteliers und Gäste zusammen, die normalerweise eher nicht zueinanderfänden.

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Der Vorplatz des Hotels Sonnenreich gleicht an diesem sonnenarmen Tag im Advent einer dekorierten Baumschule. Weiße Rehe aus Plastik tummeln sich zwischen Tannen auf Asphalt, ein Plüscheichhörnchen nagt an einem echten Tannenzapfen, man sieht vor lauter Nadelholz den Eingang nicht. Durch die geschmückte Glasfassade des Wellnesshotels in Bad Loipersdorf dringt güldnes Licht wie der Schein vieler Laternen, die den Weg aus dem kalten Wald in burgenländische Behaglichkeit weisen. Auch wenn man an diesem erholsamen Ort bewusst auf Beschallung verzichtet – "Wer klopfet an?" wäre wohl passend als Soundtrack. Vorweihnachtliche Herbergssuche und so.

Nur ein kleines Detail in diesem Wellness-Weihnachtswimmelbild aus beruhigenden Grüntönen ist unstimmig: eine junge Frau mit knallpinken Haaren und großflächigen Tattoos auf Dekolleté und Armen, die gerade nervös ihre Zigarette ausdämpft und nicht weiß, ob sie das Hotel betreten soll. Nicole fasst einen Entschluss, bahnt sich festen Schritts einen Weg durch den toten Wald bis ins Innere der hübschen Herberge.

Die weitläufige Lobby wirkt vor dem Wochenende wie ausgestorben. Nur ein gelangweilt wirkendes Paar in Bademänteln baumelt nahe der Rezeption in Affenschaukeln, als Nicole in einem grauen Designerfauteuil Platz nimmt. Die 28-Jährige ist ohne Familie aus dem 20 Kilometer entfernten Fehring in der Oststeiermark gekommen. Sie verreist zum ersten Mal in ihrem Leben allein. "Die Mama musste beim Buben bleiben – krank geworden", sagt sie knapp und meint mit der "Mama" die Mutter ihres Freundes, die sie hätte begleiten wollen. Ihre eigene Mutter hätte sie nicht begleiten können. "Die sitzt wieder einmal", sagt sie und meint damit: im Gefängnis. Ihr Freund, von Beruf Türsteher, kam als Begleiter ebenso wenig infrage, denn: "Mein Mann hat momentan viel zu tun."

Großbrand

Fast genau einen Monat vor Weihnachten hat das Haus in Fehring, in dem Nicole mit dem Lebensgefährten, zwei Kindern und Hunden wohnt, lichterloh gebrannt. Mehr als 100 Feuerwehrleute hatten Mühe, den Brand zu löschen, der sich von der Hundehütte aus über den leerstehenden Stall und eine Werkstatt auf den Dachstuhl ihres Wohnhauses ausbreitete. Das Haus ist bewohnbar, gleicht aber nach dem Brand einer notdürftig versorgten Bleibe in dem verkohlten Chaos.

Nicole erzählt das ruhig und sachlich, hebt erst wieder eine gezupfte und geschminkte Braue, als sie darauf zu sprechen kommt, was ihr das Refugium in Fehring bedeutet. "Ich bin von Wien hergezogen, weil mir die Ruhe guttut. Jedes Mal, wenn ich mich Wien auch nur nähere, werde ich nervös. Schon wie die Wiener Auto fahren – total aggressiv", sagt sie und schlägt wie in Abwehr die Beine übereinander.

Drastisch reduziert

Ruhe findet sie in dem Fehringer Haus meist tagsüber. Nicole arbeitete zuletzt als eine Art Nachtwächterin an einer Tankstelle. "Die Leute können sich oft nichts darunter vorstellen, was das ist: Security", meint sie. "Es ist etwas Besonderes. Du musst wachsam sein, deeskalieren." Sie scheint viel übrig zu haben für diesen Beruf, bei dem sie die Nächte im Freien verbringt und nie eine spezielle Ausbildung machen konnte. "Die musst du dir selber bezahlen. Aber bei dem Gehalt lohnt sich das nicht, geht sich auch kaum aus."

Ihr Einkommen hat sich gerade noch einmal drastisch reduziert. Sie war ein paar Mal nicht bei der Tankstelle erschienen, weil ihr der Brand so viel abverlangte: aufräumen, Versicherungszeugs, die Kinder beruhigen. Der Arbeitgeber schickte ihr die Kündigung per Post, ein persönliches Gespräch gab es nicht. Mittlerweile macht sie wieder denselben Job als Security, nur woanders und auf Stundenbasis. Man hat Mühe, sich vorzustellen, wie die junge Frau 160 Euro für ein Zimmer in dem Hotel aufbringen konnte. Konnte sie auch nicht, und doch ist sie Gast des Hauses.

Urlaub dringend nötig

Verantwortlich dafür ist der Mann, der für Nicole an diesem Tag den Chauffeur gespielt hat und ihr nun in der Lobby gegenübersitzt. Der ehemalige PR-Berater Karl Polaska-Auer gründete 2007 die Menschenrechts- und Hilfsorganisation Global Family. Er sieht seine Aufgabe darin, Hoteliers und Gäste zusammenzubringen, die normalerweise eher nicht zueinanderfänden. Er hält etwa Kontakt zu Frauenhäusern und vermittelt meist aktiv kostenlose Kurzurlaube an Menschen, die ein paar ruhige Tage dringend nötig haben. Selter ist der umgekehrte Fall wie jener von Nicole, die über die Facebook-Gruppe "Familien in Not" auf das Angebot aufmerksam wurde und Global Family kontaktierte.

Als erstes Hotel brachte er das luxuriöse Hospiz am Arlberg dazu, kostenlos Zimmer bereitzustellen. Aber gibt es denn so viele Menschen, die sich gar keinen Urlaub leisten können? "In Österreich 1,5 Millionen, wenn man die Zahl der Armutsgefährdeten hernimmt", sagt er nüchtern. In den vergangenen zwölf Jahren konnten er und seine Frau Krystyna – die die Organisation als Empfängerin der Wohltätigkeit kennenlernte –, gut 300 Häuser überzeugen, Zimmer für Bedürftige zu reservieren. Das Hotel Sonnenreich gehört noch zu den "frischgefangenen" Gastgebern, die Polaska-Auer auf seinen Touren durch Österreich für die Sache gewinnt. "Am allerschwersten ist es, zu vermitteln, dass Urlaub kein Luxus ist für Menschen, die ihn sich nicht leisten können", sagt er.

Zusammengeschlagen

Wenn Nicole erzählt, redet sie nicht über Luxusprobleme. Mit fester Stimme und fast schon distanziert geht sie in der Lobby des Sonnenreich weiter zurück in der eigenen Biografie: mit elf Jahren ins Heim abgeschoben – "weil ich, wie man so schön sagt, ein 'aufmüpfiges‘ Kind war"; mit 16 in ein Mutter-Kind-Wohnheim übersiedelt; bisheriger Tiefpunkt der späteren Security-Frau: die beiden Typen, die sie in einer Disco brutal zusammengeschlagen haben, als sie versuchte, deren Streit zu schlichten; es folgten zwei komplizierte Operationen und der Versuch seitens der Täter, das Ganze mit Schweigegeld zu regeln; das Opfer willigte zunächst ein, machte dann aber doch eine Aussage bei der Polizei, nachdem die beiden keinen Cent bezahlt hatten; für die ursprüngliche Falschaussage kassierte die junge Frau eine Vor- und eine Geldstrafe; Letztere hat sie bis heute nicht abgestottert.

An Urlaub verlor Nicole in diesen Jahren selten einen Gedanken. "Ein Mal war ich mit den Eltern in Italien. Und vor zehn Jahren ohne sie in Tunesien. Mein bislang letzter Urlaub." Gibt es Sehnsuchtsziele? "Malediven", sagt sie. Das Wasser sei dort angeblich so klar. Nicole stellt ihre Kaffeetasse ab, nimmt einen Schluck Leitungswasser. Gespräch beendet. Jetzt hat sie Lust auf Thermalwasser. Wellness ist, wenn man trotzdem entspannt. (Sascha Aumüller, RONDO, 20.12.2019)

Helfen: www.global-family.net