Natürlich ist das jetzt ein bisserl fies. Vielleicht ja mehr als nur ein bisserl. Denn als wir in Wien landeten, hatte es 25 Grad weniger. Es schneegraupelte. Es war "wäää". Am liebsten hätten wir auf dem Weg zum Gepäckband umgedreht und wären wieder zurückgeflogen. In die Sonne. In die Wärme. Ans Meer. An den Strand. Auch wenn der Anblick von Rentierschlitten, Schneemännern oder dick vermummten Weihnachtsmännern unter den Palmen der Uferpromenade, vor Surfshops oder auf dem Sonnendach des Strandcafés auch nach einer Woche noch immer gewöhnungsbedürftig war: Das hält man aus.

Foto: Thomas Rottenberg

Nicht nur wegen der Wärme, sondern aus einem ganz einfachen Grund: Dort, wo es 24/7 jingle-bellt und niemand im Traum daran denkt, das permanente "Driving Home for Christmas" in die Tat umzusetzen, muss man dann ja nicht bleiben. Genauer: Dort kann man nicht bleiben. Ich jedenfalls nicht. Dort sind zwar Hotel und Radverleih – aber das war es schon: Auch wenn gut 85 Prozent der Gäste von All-Inc-Club- und Hotelanlagen oder Bettenburg-Agglomerationen diese nie verlassen, heißt das nicht, dass man selbst so urlauben muss.

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Ich schaffe das nämlich nicht. Irgendwohin zu reisen, um eine Woche lang träge und dröge neben dem Pool herumzuliegen (ins Meer? Sicher nicht! Aus 1.000 Gründen), kann ich nicht. Genauso wenig wie zweimal täglich jeweils so viel zu essen, wie sonst während einer ganzen Woche (Wir haben es bezahlt!). Auch im allmorgendlichen Handtuch-Tapezierer-Kampf um die Liegen in der ersten Reihe mitzumischen überfordert mich. Restlos. Obwohl das doch alle (oder zumindest die Masse) so machen. Tendenz steigend. Weil das tatsächlich die mehrheitsfähige Definition von "Urlaub" ist.

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Ich habe das mehrmals versucht – und bin jedes Mal gescheitert. Kläglich. Stets gleich am ersten Tag. Egal ob "auf Malle", "auf Anataleia" (sic!) oder sonstwo. Darum haben wir es diesmal, auf Gran Canaria, gar nicht erst versucht: "GC", das war keine Dienstreise, sondern echter Urlaub. Eine Woche Rennrad fahren. Mit vielen Hügeln – und noch mehr Wind. Und ein paar, wenn auch nicht wirklich vielen, wunderschönen Laufkilometern zwischendurch.

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Ja eh: Viereinhalb Flugstunden südwestlich des Wiener Wäääh-Wetters Rad zu fahren ist nicht neu. Nicht auf dem Rennrad, nicht auf dem Mountainbike – und längst auch nicht mehr mit dem E-Tourenrad. Davon zeugt neben einer hochprofessionellen Verleih-Infrastruktur mit echtem Top-Material und -Service und einem Routen- und Kartennetz, von dem man anderswo nur träumen kann, nicht zuletzt der Umgang der Autofahrer mit Radfahrern: In einer Woche wurden wir auf Gran Canaria exakt zweimal mit weniger Seitenabstand als eineinhalb Metern überholt. "Paradiesische Zustände", meinte STANDARD-Tretlager-Autor Steffen Arora, als ich ihm davon erzählte. (Mehr dazu gibt es Ende der Woche im "Radkasten" auf derStandard.at, mehr Rad-Fotos auf meinen Facebook- und Insta-Accounts.)

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Laufen hat hier deutlich weniger Gewicht. Zu Unrecht. Denn ähnlich wie beim Radfahren ist hier alles möglich – aber abgesehen von ein paar Handvoll Joggern, die in Maspalomas, unserem Basislager, die zweieinhalb Kilometer lange Strandpromenade meist eher pflichtbewusst denn fröhlich auf und ab trabten, sah ich wenige Läufer: Auf der Landstraße höchstens zwei – und abseits, auf den grandiosen Dirttracks, Pisten, Wegen und Pfaden, die kreuz und quer durch Täler und über Hänge führen, keine zehn Trailläufer. Dafür doch etliche Wanderer.

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Und dort, wo die kleinen bis mittelgroßen sandigen Buchten enden und von schroffen, wenn auch nicht wirklich hohen Klippen abgelöst werden, führen zwar schmale Pfade über die großen, runden Geröllhalden, aber Läufer habe ich dort keinen einzigen gesehen. Oder getroffen.

Das ist schade, aber auch nachvollziehbar: Auf den Steinen ist Laufen schwer. Tempo kann man getrost vergessen. Dafür muss man höllisch aufpassen, nicht umzuknöcheln: Die losen, wackeligen Steine kippen in jede Richtung – aber die Blicke übers Meer und das bisserl Gischt, das einen hin und wieder erwischt, sind die Mühe allemal wert.

Foto: Thomas Rottenberg

Allein ist man hier aber dennoch nicht. Immer wieder trifft man auf niedrige kreisförmige Mauern. Drinnen ist es windgeschützt. Meist liegt hier einer. Öfter zwei: Der Sandstrand ist schwule Aufriss-, die steinige Küste dann Cruisingzone. Je weiter weg von den Miet-Sonnenschirm-Batterien im Sand, desto lebenslustig-eindeutiger. Das ist kein Geheimnis: Wer sich daran stößt, ist hier falsch. Und wer nicht mitspielen will, muss ja nicht. "Thank you. But: No, thank you."

Foto: Thomas Rottenberg

Irgendwann wird der steinige Pfad entlang der Klippen dann aber doch zu schmal und ungemütlich – und so landete auch ich wieder auf der Promenade. Und die führt dann zum Faro de Maspalomas. Der von 1861 bis 1889 errichtete, knapp 60 Meter hohe Leuchtturm ist eines der Wahrzeichen der Insel. Eh nett, aber in Wirklichkeit nicht sooo beeindruckend. Aber natürlich eine Landmark, um die herum sich das touristische Leben konzentriert.

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Und zwar mit allen Facetten des Pauschal- und Massentourismus: Dass es immer noch Menschen gibt, die die an den Stränden feilgebotenen gefälschten Designertaschen und -sonnenbrillen kaufen, bestaunte ich schon vor zehn Jahren. Dass darunter nicht wenige Leute sind, die glauben, etwas Echtes supergünstig erstanden zu haben, macht mich als Ohrenzeuge immer wieder fassungslos. Andererseits: Gäbe es solche Oberchecker nicht, wären auch die Händler weg. Es ist wie mit den nigerianischen Ölprinzen: Irgendwer fällt wohl auch auf den schlichtesten Schmäh herein – gerade hier regeln Nachfrage und Erfolg das Angebot.

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Nach dem Leuchtturm kommt der Sandstrand. Ein paar Dutzend Badende finden sich hier immer – und etliche von ihnen stehen nackt im Wasser. Das Faszinierende daran ist, dass Nacktheit hier nicht in einem abgeschiedenen Winkel gelebt wird, sondern ungeachtet der nichtbadenden Spaziergänger – und von denen sind hier doch recht viele unterwegs.

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Kein Wunder, denn rund einen Kilometer nach dem Faro beginnen die Dünen von Maspalomas. Basic Facts: Sie erstrecken sich über rund fünf Quadratkilometer, entstanden durch einen Tsunami im 18. Jahrhundert – und sind heute eine Landschaft, die es zu schützen gilt.

Denn die Dunas sind Gran Canarias bekannteste Sehenswürdigkeit – und angeblich auch die eindrucksvollste.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich habe mit solchen Superlativen ein Problem: Ist die Freude, hier am Rad alle 200 Serpentinenmeter vom nächsten Hammerblick geplättet zu werden, etwa weniger eindrucksvoll?

Tatsächlich steht das eine mit dem anderen nicht in Konkurrenz, sondern ergänzt und potenziert sich: Schönes wird nicht nur durch Teilen schöner, sondern auch dann, wenn man es gelten lässt. Nicht relativiert. Nicht abwägt. Nicht reiht, sondern einfach jubelt. Kinder können das: Jede Kleinigkeit, jedes Detail, jeder Augenblick – Wunder reiht sich an Wunder.

Foto: Thomas Rottenberg

Es gibt aber etwas, das das Laufen in den Dünen und das Radfahren auf den Bergstraßen Gran Canarias verbindet: der Umstand, es sich selbst erarbeitet zu haben. Statt mit dem Bus auf den Berg oder Buggy oder Segway in den Sand eben jeden Meter aus eigener Kraft geschafft zu haben. Egal ob schnell oder langsam (oder mit E-Unterstützung auf dem Rad): selbst. Das macht einen Unterschied. Die Mühe. Die Anstrengung. Das Einsinken und Wegrutschen. Das Scheinbar-nicht-Weiterkommen. Das Knirschen und Scheuern des vom Wind in Ohren, Nase und Mund geblasenen Sandes – all das ändert am Ausblick von oben objektiv gar nichts. Subjektiv aber eben alles: Das ist Leben. Für mich.

Foto: Thomas Rottenberg

Für andere? Wieso mehr als acht von zehn Urlaubern gar nicht auf die Idee kommen, sich das, was vor ihren Club-Mauern, keine 100 Meter von der überall gleichen Kunstwelt der Hotelressorts, liegt, anzusehen, werde ich nie verstehen.

Nicht nur auf Gran Canaria, überall: Belek, Hurghada, Malle. Phuket, Ubut oder Lignano – die Liste ist lang und wohl endlos.

Hinter dem Zaun des All-Inc-Paradies-Gefängnisses beginnt die Welt. Aber das Gros der Reisenden ist nicht nur keinen Millimeter neugieriger, als das Pauschalarrangement es vorsieht, sondern fordert, dass alles möglichst so zu sein hat wie daheim. Das Schnitzel. Das TV-Programm. Die Sprache.

Foto: Thomas Rottenberg

Ob ich mich nicht schäme, in Zeiten der Klimadebatten Flugreisen irgendwohin zu machen, um dann zu laufen oder Rad zu fahren, werde ich immer wieder gefragt. Oder eigentlich: Es wird nicht gefragt, sondern abgewatscht. Weil es böse ist zu fliegen. Punkt und aus.

Wer reisen will, wer mehr als das eigene Dorf sehen, kennen und verstehen will, versündigt sich. Heißt es. Heute.

Früher war der große Horizont, das Erleben und Erfahren vom Leben, von Menschen, von Kulturen anderswo das, worauf man stolz war. Wovon man erzählte, worum man beneidet wurde. Heute ist "Fliegen" das wirkliche F-Wort.

Zumindest in der Blase, in der Sie und ich leben.

Foto: Thomas Rottenberg

Auf Gran Canaria landen die Charterbomber im Zehnminutentakt. So wie an tausenden anderen Urlaubsorten auch. Die Flieger werden mehr. Sie sind voll – und die Sitzreihen rücken noch enger zusammen.

Aus einem früheren Job schwirrt mir immer noch eine nie für die Öffentlichkeit gedachte Zahl durch den Kopf: 85 Prozent der typischen Pauschaltripgäste verlassen Club, Ressort und Hotelanlage nicht.

Diese Menschen sind die Masse. Die Mehrheit. Der den Markt bestimmende Faktor. Sie reisen nicht ihren Träumen nach, sondern dorthin, wo das günstigste Angebot sie hinführt. "Waun mi des Reisebüro ned vermittelt hätt …" ließ Helmut Qualtinger seinen Travnicek schon in den 1950ern jammern – und da war die Welt noch in Ordnung. Zumindest was das Klima anging.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber zurück zur Frage, ob ich mich schäme, viereinhalb Stunden zu fliegen, um dann eine Woche Rad zu fahren, zu schwimmen oder zu laufen? Nein, keine Sekunde.

Nicht weil ich glaube, dass die Fridays-for-Future-Aktivisten falsch liegen. Sondern weil sie recht haben. Ich beneide sie um ihren Enthusiasmus, ihre Energie, ihre Hoffnung – und ihre Naivität. Denn zu glauben, dass eintausend bildungsbürgerliche Jugendliche durch das Besetzen von City-Kreuzungen das Urlaubsreiseverhalten von Hunderttausenden, die ausschließlich auf "billig und all inclusive" reagieren, verändern, ist lieb, aber grotesk.

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Denn das Konsumverhalten der für die Urlaubsindustrie relevanten Masse steuert man primär über einen Reiz: den Preis. Solange Fliegen obszön billig ist, solange in All-Inc-Burgen soziale und ökologische Standards mit Füßen getreten werden, die Sonne aber trotzdem scheint, wird sich das nicht ändern: Die 85 Prozent werden reisen, wohin "das Reisebüro" sie günstig schickt – und sich weder vorher im Kopf noch dann vor Ort einen Millimeter bewegen.

Wird Fliegen teurer, empfindlich teurer, werden sie eben nicht mehr drei- oder viermal im Jahr kurz ins Warme fliegen, sondern anderswo Urlaub machen. Und sei es auf Balkonien. So wie früher.

Die anderen 15 Prozent spielen in diesem Szenario keine relevante Rolle. Denn sie wissen, was und wohin sie wollen. Sie würden auch mehr, deutlich mehr für ihre Reisen zahlen. Und würden sehr gerne auf die Neben- und Begleiterscheinungen der Massenreiserei verzichten.

Foto: Thomas Rottenberg

Weil es ihnen, weil es uns allen auch um das geht, was Reisen ausmacht. Um das, was Sehen, Erleben, Staunen und Lernen in uns auslöst. In Museen oder auf archäologischen Grabungsfeldern. In Opern, in Theatern oder auf Festivals. Auf einem Markt, einem Berg oder am Meer. Oder eben beim Sport – genau an solchen Orten. Egal ob beim Kiten, beim Segeln, beim Wandern – oder bei mir auf dem Rad und beim Laufen: Leidenschaft und Neugierde sind Werte. Ohne sie, ohne den Versuch, Träume hin und wieder auch zu leben, verkümmern wir.

Und dazu darf man sich ruhig bekennen. (Thomas Rottenberg, 18.12.2019)


Mehr Bilder aus Gran Canaria gibt es auf Tom Rottenbergs Facebook-Seite und Insta-Account.


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