Ballett bedeutet Spitzenbelastung. Aber wie viel ist zu viel? Mit dieser Frage hat sich die Sonderkommission zur Klärung der Vorwürfe an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper beschäftigt.

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Wien – Mangelnde Strukturen in Bezug auf die Verantwortlichkeiten, unzureichende medizinisch-therapeutische Versorgung der Ballettschüler und fehlendes Problembewusstsein in Bezug auf Kinderschutz und Kindeswohl: Zu diesem verheerenden Schluss kommt die Sonderkommission zur Klärung der Vorwürfe an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper, die am Dienstag ihren Abschlussbericht vorgelegt hat.

"Eine Gefährdung des Kinderwohls" sieht die Kommission in ihrem schriftlichen Bericht etwa durch "die unzureichend kontrollierte Gesamtbelastung der jungen Tänzer und Tänzerinnen, die sich aus Training, Proben, Auftritten, Wettbewerben und dem Schulbesuch ergibt. Erschwerend kommt das Fehlen einer weisungsfreien Kinderschutzbeauftragten hinzu".

Die Liste der von der Sonderkommission festgestellten Mängel der Ballettakademie ist lang: Im Bereich der untersuchten Strukturen wurden etwa "verschwimmende Verantwortlichkeiten zwischen Leitung der Ballettakademie, künstlerischer Leitung der Ballettakademie und Direktion der Staatsoper" festgestellt, der Führungsstil wird als "intransparent und nichtpartizipativ" beschrieben.

Mangelndes Problembewusstsein

Hinzu komme, "dass der künstlerische Leiter der Ballettakademie selten an der Ballettakademie und fast nie im Unterricht anwesend ist". Eine "nachhaltige Qualitätssicherung" sei an der Akademie "nur äußerst mangelhaft bis gar nicht vorhanden", Aufgaben und Verantwortlichkeiten "nicht eindeutig zuordenbar", weshalb auch Entscheidungsprozesse "nicht klar nachvollziehbar" seien.

"Wenn man sich wechselseitig aufeinander verlässt, fühlt sich am Ende niemand mehr für Strukturen, Prozesse und die Weiterentwicklung des Systems verantwortlich", kritisierte Kommissionsleiterin Susanne Reindl-Krauskopf bei einer Pressekonferenz. So sei man an der Staatsoper davon ausgegangen, "dass Aufgaben delegiert werden und es erledigt wird. Das war Teil des Problems. Denn die Leitung der Ballettakademie ging davon aus, dass nur Dinge verändert werden, wenn es von oben angeordnet wird."

Zu den Kritikpunkten zählen fehlende Kriterien für Prüfungen oder für das Aufnahmeprozedere neuer Lehrer. Besonders krass sind die Befunde in Bezug auf die medizinisch-therapeutische Versorgung der Schülerinnen und Schüler, diese wird als "unzulänglich" bezeichnet. So fehle es an der Ballettakademie an einem entsprechenden "Bewusstsein für die eigene Verantwortung in Gesundheitsfragen", es gebe keinen verlässlichen Handlungsplan für medizinische Zwischenfälle, keinen "problemlos zugänglichen" Kinderfacharzt sowie "keine auf die Bedürfnisse von Balletttänzer/innen abgestimmte Ernährung". Weiters sei die Stelle des Masseurs unbesetzt.

Auch ein "Problembewusstsein in Bezug auf Kinderschutz und Kindeswohl fehlt in der Ballettakademie, insbesondere auf Führungsebene". Für die Sonderkommission steht somit fest, "dass der Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Diskriminierung, Vernachlässigung sowie gesundheitlicher Beeinträchtigung nicht im notwendigen Ausmaß erfolgt". Ein "fehlendes Bewusstsein für Grenzüberschreitungen" äußere sich zudem in "erniedrigenden Kommentaren", der Art der Maßregelungen zum Essen, "(vermeintlich) ästhetischen Anforderungen" und einer "unterentwickelten Kommunikationsstruktur vonseiten einiger Ballettpädagog/innen". Erschwerend komme das Fehlen einer weisungsfreien Kinderschutzbeauftragten hinzu. Somit kommt man zu dem Fazit, dass es nun darum gehe, "diese Ausbildung ins 21. Jahrhundert zu überführen".

"Gesamtkonzept fehlt"

Zu bereits von der Ballettakademie getroffenen Maßnahmen heißt es im Abschlussbericht, der an der Universität für Musik und darstellende Kunst präsentiert wurde: Die gesetzten Schritte erweckten den "Eindruck, dass zwar an verschiedenen Punkten gearbeitet wird, es aber noch an einem nachvollziehbaren Gesamtkonzept fehlt". Die grundsätzliche Empfehlung der Kommission richte sich daher "darauf, eine Strategie für eine zeitgemäße (klassische) Ballettausbildung auf höchstem Niveau unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der potenziellen SchülerInnen und der (schul-)rechtlichen österreichischen Rahmenbedingungen zu entwickeln".

Die Kommission wurde im April vom damaligen Kulturminister Gernot Blümel (ÖVP) eingesetzt, nachdem schwere Vorwürfe gegen die Ballettakademie laut geworden waren. Vornehmlich durch eine mittlerweile entlassene Ballettlehrerin seien die Schüler dort teils gedemütigt worden, Gewalt und Drill sowie einem ungesunden Körperbild ausgesetzt gewesen. Auch der Vorwurf eines sexuellen Übergriffs durch einen Lehrer stand im Raum.

Nicht zufrieden mit Änderungen

Insgesamt hat die Kommission, die zunächst von der nunmehrigen Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein geleitet und dann von Susanne Reindl-Krauskopf, Vorständin des Instituts für Strafrecht und Kriminologie der Uni Wien, abgelöst wurde, 16-mal getagt und mit 24 Auskunftspersonen gesprochen. Bei der eingerichteten Clearingstelle hätten sich 43 Personen gemeldet, wobei 20 Personen an beratende Stellen weitervermittelt wurden.

Nach dem bereits im Juli veröffentlichten Zwischenbericht liegt nun eine abschließende Einschätzung vor. Zwar seien seit Beginn der Tätigkeit der Sonderkommission im April von der Ballettakademie zahlreiche Änderungen vorgenommen worden, "doch erwecken sowohl die Vorgehensweise wie auch die Inhalte der getroffenen Maßnahmen bei der Kommission den Eindruck, dass die Motivation dieser Änderungen nicht primär dem Wohl der Kinder und Jugendlichen gilt", heißt es.

Es brauche "innovative Leitung"

Zu den bisherigen Maßnahmen der Ballettakademie meinte Kommissionsleiterin Reindl-Krauskopf im Rahmen der Pressekonferenz, dass diese grundsätzlich begrüßenswert seien, es sich dabei jedoch um Einzelmaßnahmen gehandelt habe: "Das ist mehr Symptombekämpfung." Sie forderte für die Zukunft eine "innovative Leitung" der Ballettakademie, die auch "selbstständig tätig wird, wenn es um künftige Verbesserungen und Veränderungen geht". Von politischer Seite wünscht man sich "ein klares Bekenntnis zur Neuausrichtung, und zwar nicht nur vom Kultur-, sondern auch vom Bildungsministerium".

Eine Chance sieht die Kommission im anstehenden Führungswechsel an der Wiener Staatsoper, die sowohl mit Bogdan Roščić als Staatsoperndirektor als auch einem neuen Ballettdirektor Möglichkeiten zur Umsetzung der Empfehlungen bringt. "Man sollte das Zeitfenster der Umstrukturierung nützen und die Maßnahmen in enger Abstimmung mit der designierten Leitung umsetzen." Auf Anfrage, ob es auch einen Wechsel an der Spitze der Ballettakademie geben sollte, die derzeit von Simona Noja-Nebyla geleitet wird, antwortete Reindl-Krauskopf: "Wie gesagt: Wir glauben, dass es eine neue, innovative Leitung braucht. Sonst dürfte es schwer sein, festgefahrene Strukturen aufzubrechen." Zur Letztverantwortung des Staatsoperndirektors Dominique Meyer meinte sie, dass dieser natürlich nicht persönlich alles im Blick gehabt haben konnte, aber seine Kontrollfunktion wohl "nicht ausreichend" wahrgenommen habe.

Schallenberg sieht "klare Handlungsfelder"

Kunst- und Kulturminister Alexander Schallenberg sieht nach der Veröffentlichung des Endberichts der Sonderkommission zur Ballettakademie "dringenden Handlungsbedarf", wie es in einem Statement heißt. "Die Aufarbeitung der erschütternden Zustände die Ballettakademie betreffend durch eine unabhängige Expertenkommission hat sich als richtig und unerlässlich erwiesen."

Die nun präsentierten Erkenntnisse und Empfehlungen der Sonderkommission würden "klare Handlungsfelder" aufzeigen, "die es ehestmöglich und ohne Kompromisse aufzuarbeiten gilt", so der Minister. Die verantwortliche Leitungsebene der Staatsoper müsse sich "der Ernsthaftigkeit und Tragweite der Thematik voll bewusst werden". Darum werde der Minister noch vor Weihnachten Gespräche mit den handelnden Personen führen.

Bisherige Maßnahmen

Wie aus der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage durch Kulturminister Schallenberg hervorgeht, zählen zu den von der Ballettakademie seit Beginn der Untersuchungen der Kommission bereits umgesetzten beziehungsweise in die Wege geleiteten Maßnahmen etwa die Beiziehung der Kinderschutzorganisation Möwe und die Einrichtung einer Koordinationsstelle innerhalb der Staatsoper.

Neben der Begleitung des Aufarbeitungsprozesses durch die Möwe, die Psychologen bereitgestellt hat, analysierte die neue "Koordinationsstelle Ballettakademie" innerhalb der Staatsoper "die Istsituation" und "begleitet die Umsetzung und Ausarbeitung von Maßnahmen, koordiniert die Zusammenarbeit mit den externen Institutionen und hat im Auftrag der Geschäftsführung der Wiener Staatsoper eine allgemeine Kontrollfunktion übernommen". Darüber hinaus wurde mit dem Schuljahr 2019/20 ein Verhaltenskodex nach dem Vorbild von "100% Sport" eingeführt, in dem "die Grundsätze hinsichtlich des richtigen Umgangs mit den Schülerinnen und Schülern der Ballettakademie festgelegt" wurden. Dieser werde allen Mitarbeitern der Ballettakademie zur Kenntnis gebracht und von allen unterzeichnet.

Kinderschutzteam und Psychologinnen

Seit Ende Oktober sind nun auch zwei Psychologinnen "mit Spezialausbildungen und Erfahrung im Bereich Kinder- und Jugendpsychologie sowie Hochleistungssport fix in die Ballettakademie eingebunden". Geplant ist – ebenfalls in Zusammenarbeit mit der Möwe – die Erstellung eines umfassenden Kinderschutzkonzepts. Weiters wurde ein Kinderschutzteam, bestehend aus einer Mitarbeiterin der Ballettakademie und den zwei in der Ballettakademie tätigen Psychologinnen, installiert. Ebenso habe es "Basisschulungen" aller Mitarbeiter gegeben, in der Folge sind in einem Stufenplan weitere Schritte zur Implementierung des Kinderschutzkonzepts geplant.

Was die gesundheitlichen Kritikpunkte betrifft, wurde unter Mitwirkung der Organisation Leistungssport Austria und der in der Ballettakademie tätigen Psychologinnen das neue Unterrichtsfach "Gesundheitsprogramm" eingeführt, das insbesondere die Bereiche Ernährungslehre, Athletik/Verletzungsprophylaxe/Leistung/Training, Sportpsychologie und Body-Awareness abdecke. Darüber hinaus werden den Schülern auf Leistungssportler abgestimmte physiotherapeutische Behandlung und Massagen in den Räumen der Ballettakademie angeboten. Für das Schuljahr 2019/20 wurde ein Pilotprojekt entwickelt, "das eine umfassende medizinische Untersuchung aller Schülerinnen und Schüler vorsieht, inklusive Physiocheck, Anthropometrie, Ernährung und psychologische Testung".

Aufnahmetests gefordert

Das Ziel sei, "den Istzustand zu erfassen und daraus Erkenntnisse für die Schülerinnen und Schüler (und deren Eltern), die Pädagoginnen und Pädagogen sowie die Ballettakademie zu erwerben, damit das Training und der Unterricht sowie die medizinische Betreuung besser auf die Erfordernisse der Schülerinnen und Schüler abgestimmt und allfällige Schwächen und Probleme einzelner Schülerinnen und Schüler rechtzeitig erkannt werden können". Zudem werde an der Erstellung eines sportmedizinischen Aufnahmetests für zukünftige Schüler gearbeitet.

Zu den weiteren Maßnahmen zählen die "Intensivierung und Verbesserung der Kommunikation mit den Eltern und externen Institutionen", Änderungen in der Administration der Ballettakademie inklusive Entwicklung eines Qualitätsmanagements, die Entwicklung eines "modernen Schülerinnen- und Schülerverwaltungsprogramms" sowie die "Forcierung von Fortbildungsangeboten für Lehrerinnen und Lehrer".

Reaktion der Staatsoper

Die Wiener Staatsoper verweist in einer Reaktion neben den bereits in der parlamentarischen Anfragebeantwortung gesetzten Schritten auch auf die Reduktion der Anzahl der Auftritte der Schüler. Als eine Sofortmaßnahme sei sowohl die Gesamtbelastung der Schülerinnen und Schüler überprüft und die Anzahl der Auftritte reduziert worden, heißt es in der Stellungnahme, die sonst alle anderen bereits in der Anfragebeantwortung durch Kulturminister Alexander Schallenberg genannten Aktionen aufzählt. Bei der Einteilung werde nun verstärkt auf den Ausbildungsstand und die Einzelbelastung geachtet. Weiters sei eine Aufstellung aller Auftritte für die gesamte Saison erstellt und mit dem Arbeitsinspektorat abgestimmt worden.

In ihrer Stellungnahme betont die Staatsoper, von der Sonderkommission nicht über den Bericht informiert worden zu sein. Nach erster Durchsicht des mittlerweile heruntergeladenen Papiers werde "nach der gebotenen sorgfältigen Durchsicht des Berichts eine fundierte Stellungnahme an die zuständigen Institutionen erfolgen". Die Staatsoper geht davon aus, "dass dabei auch einige nicht mehr dem aktuellen Status entsprechende oder missverständliche Inhalte des Berichts richtiggestellt werden können". (APA, red, 17.12.2019)