Ken Krimstein: "Die drei Leben der Hannah Arendt"

Mit 14 liest Hannah Arendt alle Bücher von Kant, mit 17 beginnt sie ihr Studium bei Martin Heidegger, mit dem sie wenig später eine ekstatische Liaison beginnt. 1940 spaziert sie aus einem französischen Internierungslager, um vor den Nazis nach New York zu fliehen. Später wird sie die erste Professorin in Princeton. US-Cartoonist Ken Krimsteins rasante Lebensskizze zeichnet die vielen Stationen und Fluchtpunkte der unvergleichlichen, kettenrauchenden Intellektuellen nach – samt ihres illustren Bekanntenkreises aus namhaften Künstlern, Autoren und Theoretikern. Mit feinem Strich gibt Krimstein Einblicke in die Entstehung ihres kompromisslosen Denkens, ihrer unentwegten Suche nach der Wahrheit in einer Welt, die Totalitarismus und Holocaust aus den Angeln gehoben haben.

Ken Krimstein, "Die drei Leben der Hannah Arendt". € 17,40 / 244 Seiten. dtv 2019

Andrea Wulf, Lillian Melcher: "Die Abenteuer des Alexander von Humboldt"

Heuer wäre Alexander von Humboldt 250 Jahre alt geworden: Das Jubiläum verhalf ihm zu einem würdigen Comeback, u.a. als Pionier der Klima- und Ökosystemforschung. Diese grandios illustrierte Graphic Novel auf Basis der Bestseller-Biografie von Andrea Wulf folgt dem großen Naturforscher, Sammler und Humanisten in unberechenbare Strömungen des Orinoco, auf unwirtliche Vulkangipfel in den Anden, in ein noch unentdecktes Lateinamerika voll überwältigender Natur. Die Autorinnen verwenden Humboldts Skizzen, Notizen, Karten, Proben und Naturgemälde, um dessen visionäres Verständnis einer Welt voller Wechselwirkungen zu illustrieren – ein gelungenes Experiment. Mehr

Andrea Wulf, Lillian Melcher, "Die Abenteuer des Alexander von Humboldt". € 28,80 / 272 Seiten. C.-Bertelsmann-Verlag 2019

Bea Davis, Patrick Spät: "Der König der Vagabunden", Jan Bachmann: "Der Berg der nackten Wahrheiten"

"Wo der Bürger aufhört, beginnt das Paradies", ist nur einer der vielen Aussprüche von Gregor Gog (1891 – 1945). Über seine Geburtsstadt Schwerin sagte er: "Auf 100 Einwohner kommen 99 1/2 Spießer. Was einigermaßen Mumm in den Knochen und sonstwo hat, entläuft der muckrigen, miekrigen Obhub dieser Stadt möglichst bald." Genau das tat Gog, dessen bemerkenswerte Lebensgeschichte in "Der König der Vagabunden" aufgerollt wird. Als Matrose politisiert, gründete er 1918 mit gleichgesinnten Anarchisten die "Kommune am grünen Weg". Unter dem Eindruck der Armut der Zwischenkriegszeit, rief Gog die "Bruderschaft der Vagabunden" ins Leben – mit dem Ziel, den kapitalistischen Staat buchstäblich zu unterwandern. Als Chefredakteur der Zeitschrift "Der Kunde", der ersten Straßenzeitung Europas, gab er Obdachlosen eine Stimme, 1929 irritierte er die Öffentlichkeit mit dem "Ersten Vagabundenkongress" und seinem Aufruf zu einem lebenslangen Generalstreik. Reportagehaft und in einem direkten, realistischen Zeichenstil, der an Will Eisner, den Godfather der Graphic Novels erinnert, holen die Illustratorin Bea Davis und der Journalist Patrick Spät ein faszinierendes Kapitel der Weimarer Republik ans Licht.

Gregor Gogs Wege kreuzten sich auch mit denen des Anarchisten Erich Mühsam und des deutsch-österreichischen Naturphilosophen Gusto Gräser. Beiden hat der Schweizer Comickünstler Jan Bachmann ein farbenfrohes Denkmal gesetzt. Nach "Mühsam – Anarchist in Anführungsstrichen", das im Vorjahr erschien, widmet sich "Der Berg der nackten Wahrheiten" Gusto Gräser, Proto-Hippie und Vater der Aussteigerbewegung.

Bea Davis, Patrick Spät: "Der König der Vagabunden". € 25,70 / 160 Seiten, Avant Verlag 2019

Jan Bachmann: "Der Berg der nackten Wahrheiten". € 24,70 / 112 Seiten , Edition Moderne 2019

Fabien Grolleau, Jérémie Royer: "Charles Darwin und die Reise auf der HMS Beagle"

Es war die Reise auf der HMS Beagle, die den Grundstein für die Evolutionstheorie und damit für eine neue Vorstellung von der Natur des Lebens legte. Charles Darwin, 22-jähriger Student aus gutem Hause, kommt unverhofft zu dieser fünfjährigen Schiffsexpedition, die ihn in mehreren Etappen zu den Kapverden, nach Brasilien, Patagonien, Feuerland und schließlich auf die Galapagosinseln bringt. Was er dabei entdeckt und was ihn verblüfft, zeichnet diese Graphic Novel in allen Schattierungen nach. Ein farbenprächtiger Einblick in geologische, biologische und menschliche Phänomene – und eine Zeit, in der wissenschaftliche Erkenntnisse noch als Blasphemie galten. Mehr

Fabien Grolleau, Jérémie Royer, "Charles Darwin und die Reise auf der HMS Beagle", € 28 / 176 Seiten, Knesebeck, München 2019

Matthias Gnehm: "Salzhunger"

Ein verbitterter Filmstudent schließt sich einer Umweltaktivistin an, um in Lagos gemeinsam mit einem nigerianischen Blogger die illegalen Machenschaften eines Ölmultis aufzudecken. Das geht nicht lange gut. Umso tiefer sie in die Abgründe zwischen Slums, globalen Rohstoffinteressen und Umweltverschmutzung eindringen, umso unentwirrbarer wird das Netz aus Korruption, Gewalt und Skrupellosigkeit. Eine hochexplosive Story, packend in Szene gesetzt vom Schweizer Diplomarchitekten Matthias Gnehm.

Matthias Gnehm: "Salzhunger". € 32 / 224 Seiten. Edition Moderne 2019

David Böhm: "A wie Antarktis"

Warum wuchsen vor Millionen von Jahren Palmen in der Antarktis? Wie überlebt man im ewigen Eis? Baute Amundsen am Pol einen Schneemann? Das Bilderbuch "A wie Antarktis" ist alles andere als eine klassische Graphic Novel: Es verzaubert mit großformatigen Aufklappseiten und herrlich anarchischen Zugängen, mit Illustrationen, Karten, Comicelementen, Fotos und Zeichnungen. Es liefert aber auch fundiertes Wissen über das Leben in der Antarktis, die historischen Expeditionen zum Südpol, aktuelle Forschungen und die (vergeblichen) Bemühungen des Menschen, dieses leeren Kontinents habhaft zu werden. Ein freches Naturbuch für jedes Alter, das neue Perspektiven und Denkanstöße gibt.

David Böhm, "A wie Antarktis.. € 22,70 / 80 Seiten. Karl Rauch 2019

Vitali Konstantinov: "Der Sandmann"

Die Angst vor einer Maschine, die dem Menschen ebenbürtig werden und ihn ins Verderben stürzen könnte, ist in Zeiten von künstlicher Intelligenz allgegenwärtig. Wie tief sie in der Kulturgeschichte eingeschrieben ist, zeigt E.T.A. Hoffmanns Kult-Erzählung "Der Sandmann". Die meisterhaft gestaltete Graphic Novel des deutschen Zeichners Vitali Konstantinov erweckt nun den jungen Studenten Nathanael, den Alchemisten Coppelius und die wundersame Olimpia, die sich schließlich als Automat entpuppt, wieder zum Leben. Ein schauriges Drama um Besessenheit, Wahnsinn und die Macht der Wissenschaft. Püppchen, dreh dich!

Vitali Konstantinov: "Der Sandmann. Nach E.T.A. Hoffmann". € 22,70 / 48 Seiten, Knesebeck 2019

Regina Hofer, Leopold Maurer: "Insekten"

"Man sollte alles vergessen, begraben unter der Geschichte", sagt der Großvater des Wiener Comickünstlers Leopold Maurer. Er war als Mitglied der Division "Das Reich" der Waffen-SS an Kriegsverbrechen beteiligt und blieb sein ganzes Leben lang bekennender Nationalsozialist. Was geht vor in so einem Menschen? Das Zeichnerduo Hofer und Maurer hat Maurers Großvater über seine Vergangenheit befragt. Daraus entstand ein verstörendes Dokument Zeitgeschichte, voller Sturheit, Rechtfertigungsversuchen und unterdrückten Gefühlen, das die beiden Autoren in eine eindrucksvolle Bildsprache übersetzt haben.

Regina Hofer, Leopold Maurer, "Insekten". € 23,70 / 232 S. Luftschacht 2019

Lukas Kummer: "Der Keller"

Schon Lukas Kummers Comic-Adaption des ersten Bands von Thomas Bernhards autobiografischen Schriften ("Die Ursache") traf den Ton perfekt. Im zweiten Band ist Kummer, gebürtiger Tiroler, der in Kassel lebt, nun richtig im Flow. Mit einer wunderbar klaren grafischen Inszenierung wird die eigentümliche Sprache Bernhards, seine abgebrühten Analysen und Erinnerungen an eine wenig erbauliche Nachkriegsjugend hautnah erlebbar. "Der Keller", das ist eine Lebensmittelhandlung im Souterrain in einer Armensiedlung am Rande des verhassten Salzburg, die Bernhard zur Zuflucht wird und ihm erstmals das Gefühl gibt, angenommen zu sein. Großes Kino! Mehr

Lukas Kummer: "Der Keller. Eine Entziehung". € 22 / 112 Seiten, Residenz 2019

Thomas Fatzinek: "Der letzte Weg"

Die Augen der Menschen sind hohl. Nur manchmal blitzt in den schwarzen Augenhöhlen ein Funken der Hoffnung auf, oder aber SS-Runen, die die schiere Angst vor dem Tod ausdrücken. Der Wiener Comiczeichner Thomas Fatzinek dokumentiert in diesem aufwühlenden Band, wie sich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im polnischen Białystok im Juni 1941 jüdische Partisaneneinheiten formierten, um der Willkür der mordenden Nazis Widerstand entgegenzusetzen. Es folgt vor allem den Wegen von Chaika Grossman und Chasia Bornstein Bielicka, die als "Verbindungsmädchen" im "arischen" Teil der Stadt lebten und Waffen wie Informationen über die Ghettogrenzen schmuggelten. Eine bittere Geschichte von Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um sich zu wehren. Mehr

Thomas Fatzinek: "Der letzte Weg". € 17 / 120 Seiten. Bahoe Books 2019

(Karin Krichmayr, 27.12.2019)