Foto: Tachyon Publications

Etwas Sense of Wonder gefällig? Bitte sehr: Peter Watts geht mit "The Freeze-Frame Revolution" ein gängiges Motiv der SF mal von der anderen Seite an. Üblicherweise lesen wir davon, dass sich die Menschheit überlichtschnell in der Galaxis ausbreiten konnte, indem sie Sprungtore nutzte, die irgendein (oft längst verschwundenes) Alien-Volk hinterlassen hat. Hier sind wir mal beim Aufbau eines solchen Netzes dabei – und wie der Vorgang abläuft und welche Folgen er mit sich bringt, fasziniert endlos.

Atemberaubender Zeithorizont

Nicht allzuweit in unserer Zukunft begann die "Ära der Diaspora", in der umgebaute Asteroiden mit relativistischer Geschwindigkeit hinaus in die Galaxis geschickt wurden, um ein Geflecht aus Wurmlöchern zu erzeugen. Eriophora, der Schauplatz des Romans, ist ein solcher Asteroid. 30.000 Menschen sind an Bord, die meisten davon befinden sich allerdings in Stasis. Nur wenn etwas Ungewöhnliches geschieht, holt die Bord-KI Chimp Menschen aus dem Schlaf; stets nur in kleinen Grüppchen und für ein paar Tage. Zwischen solchen Wachphasen vergehen in der Regel viele Jahrtausende.

Mittlerweile ist Eriophora seit 66 Millionen Jahren unterwegs – und dank Fluggeschwindigkeit und Kälteschlaf sind immer noch diejenigen am Leben, die einst an Bord gingen. Kontakt zur Außenwelt haben sie keinen. Bei seltenen Gelegenheiten kommt mal aus einem der Tore ein waberndes energetisches Dings hervor (die Crew spricht von gremlins), und dann stehen sie auf der Brücke und rätseln, ob es wohl das ist, was aus ihren Nachfahren geworden ist. Kommunikation findet mit diesen göttergleichen Monstrositäten keine statt. Als ein Crewmitglied anmerkt, dass die Wesen sich doch wenigstens bei ihnen für den Aufbau der Sternenstraßen bedanken könnten, kontert ein anderes mit dem nüchternen Kommentar, dass wir uns ja auch nicht bei Spitzmäusen für deren evolutionäre Vorarbeit bedanken. "I think they've got other priorities by now."

Es gärt

Aus dem Gefühl, aus jedem Bezugsrahmen hinauskatapultiert worden zu sein, erwächst langsam aber doch Unzufriedenheit. Nicht bei der Hauptfigur und Ich-Erzählerin Sunday Ahzmundin übrigens, die ist lange Zeit systemtreu. Doch ihre Freundin Lian Wei konfrontiert Sunday erstmals mit unbequemen Fragen: "Furthering the Human Empire. Whatever it's turned into by now. So we build another gate and nothing comes out. They're extinct? They don't care? They just forgot about us?"

"Bald" (in erlebter Zeit, nicht in draußen verstreichender) wird Sunday feststellen, dass es noch mehr Unzufriedene gibt und dass diese vor allem der Bord-KI misstrauen. Für Sunday stellt das ein persönliches Problem dar, denn sie betrachtete Chimp stets als Freund – die Saat des Zweifels beginnt aber zu keimen. Ist Chimp ein Mörder, gar ein Massenmörder? Natürlich besteht theoretisch die Möglichkeit, dass die Crewmitglieder nur Paranoia schieben und eigentlich alles grün ist. Allerdings haben wir es hier mit Peter Watts zu tun, und dessen Zukünfte sind selten Puppenstuben. Er konfrontiert seine menschlichen Protagonisten stets mit Umständen fern der Humanität: eine SF-Tradition, die 1954 mit Tom Godwins "The Cold Equations" begann und hier nahtlos weitergeschrieben wird.

Viele Gelegenheiten zum Staunen

Doch wie wehrt man sich gegen einen Super-HAL, der seine elektronischen Augen überall hat? Und wie organisiert man eine Revolution, deren Proponenten immer nur kurz und über extreme Zeiträume verteilt aktiv werden können? Das wird sich als ebenso faszinierend erweisen wie all die anderen Attraktionen in "The Freeze-Frame Revolution". Sei es der Besuch in einem lichtarmen Garten voller schwarzer Pflanzen, sei es die fantastische Zukunftstechnologie, die hier zum Einsatz kommt: von den Von-Neumann-Maschinen, die die Portale bauen, bis zu Eriophoras Antrieb, der auf einer Singularität beruht und daher für etwas spezielle Gravitationsverhältnisse an Bord sorgt.

Und immer wieder natürlich die immensen Zeiträume, die draußen im Weltraum verstreichen – noch einmal besonders schön verdeutlicht, als sich Eriophora über 100.000 Jahre hinweg einem sterbenden Stern annähert:

Each time I awoke, our destination had leapt that much closer. (...) Sometime when I was down it ran out of helium to fuse, fell back an carbon. Sodium appeared in its spectrum. Magnesium. Aluminium. Every time I woke up it had heavier atoms on its breath. (...) Buried in basalt, we slept away the cataclysm: the fusion of neon, of oxygen, the spewing of half the periodic table into the void. The collapse of nickel into iron and that final fatal moment of ignition, that blink of a cosmic eye in which a star outshines a galaxy.

Immer mehr verfestigt sich in mir der Eindruck, dass die 1990er und 2000er Generationen der SF-Autoren der 2010er um einige Klassen voraus sind.