Der VfGH sah in Teilen der türkis-blauen Mindestsicherungsreform einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz.

Foto: Maria von Usslar

Wien – Birgit Hebein hat das erste Weihnachtsgeschenk in diesem Jahr schon am Dienstag bekommen. Die Wiener Vizebürgermeisterin und grüne Koalitionsverhandlerin für den Sozialbereich hat sich vor einer Woche gewünscht, dass sich der Verfassungsgerichtshof (VfGH) der grünen Kritik an der von Türkis-Blau beschlossenen "Sozialhilfe neu" anschließen möge: "Es wäre mein Weihnachtsgeschenk, wenn hier die Bedenken auch von unserer Seite Gehör finden würden."

Genau das geschah nun. Das Höchstgericht hat zentrale Punkte der von ÖVP und FPÖ beschlossenen Nachfolgeregelung für die Mindestsicherung als verfassungswidrig aufgehoben. Konkret zwei Maßnahmen, die sich primär gegen Zuwanderer richteten: Gekippt wurden die Höchstsätze für Kinder (mit steigender Kinderzahl gibt es weniger Geld pro Kind) und die Verknüpfung der Sozialhilfe mit Sprachkenntnissen.

In ihrem Erkenntnis kommen die Höchstrichter zum Schluss, dass mit dem vorliegenden Sozialhilfe-Grundsatzgesetz sowohl gegen den Gleichheitssatz als auch gegen verfassungsgesetzlich eingegangene internationale Verpflichtungen zur Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung verstoßen werde.

Kinder kosten viel Geld

Die Höchstsätze für Kinder seien eine "sachlich nicht gerechtfertigte und daher verfassungswidrige Schlechterstellung von Mehrkindfamilien". Die den Bundesländern vorgeschriebene Reform hätte vorgesehen, dass der Höchstsatz der Sozialhilfeleistung von 25 Prozent (241,66 Euro) für das erste Kind über 15 Prozent für das zweite sowie für jedes weitere noch fünf Prozent des Ausgleichszulagenrichtsatzes (48,33 Euro) betragen hätte. Die Höchstrichter sind der Meinung, dass diese Regelung dazu führen könne, "dass der notwendige Lebensunterhalt bei Mehrkindfamilien nicht mehr gewährleistet ist".

Die Höchstsätze für Erwachsene hat der VfGH hingegen nicht beeinsprucht. Sehr wohl aber die Regelung, dass die volle Sozialhilfe nur bei Nachweis von Sprachkenntnissen ausgezahlt würde. Wer Deutsch nicht auf Niveau B1 oder Englisch auf C1 nachweist, hätte nur 65 Prozent der regulären Sozialhilfeleistung bekommen. Die Differenz von 300 Euro erklärten ÖVP und FPÖ zum "Arbeitsqualifizierungsbonus für Vermittelbarkeit", dieser Betrag sollte für Deutschkurse gewidmet werden.

Unsachliche Fixierung auf Deutsch und Englisch

Für die Höchstrichter ist das eine "unsachliche Regelung", weil keine Gründe ersichtlich seien, "warum nur mit Deutsch- und Englischkenntnissen auf diesem hohen Niveau eine Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt anzunehmen sein soll", heißt es im VfGH-Erkenntnis. Für viele Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt seien weder Deutsch noch Englisch in dieser Qualität erforderlich. Dazu komme, dass Menschen aus unterschiedlichsten Gründen wie etwa Lern- und Leseschwächen oder Analphabetismus nicht in der Lage sein könnten, dieses Sprachniveau zu erreichen, "aber dennoch am Arbeitsmarkt vermittelbar sein können". Und noch ein weiteres Detail ist verfassungswidrig: Die Verpflichtung zur Übermittlung personenbezogener Daten verstößt gegen das Grundrecht auf Datenschutz.

Im Grundsatzgesetz selbst sieht das Verfassungsgericht keinen unzulässigen Eingriff in die Zuständigkeit der Länder, auch wenn die Gewährung von Leistungen bei sozialer Hilfsbedürftigkeit "an sich Sache der Länder" sei.

Juristischer Erfolg für SPÖ

Die SPÖ, deren Bundesratsfraktion das Gesetz vor den VfGH gebracht hatte, jubelte am Dienstag über den juristischen Sieg gegen die alte Regierung. Parteichefin Pamela Rendi-Wagner sah "eine Schande für Österreich" getilgt. Wiens Sozialstadtrat Peter Hacker hörte eine "schallende Ohrfeige für Sebastian Kurz. Lauter könnte die Dätschn nicht knallen." Bürgermeister Michael Ludwig sah sich bestätigt, Wien habe "immer schon Bedenken" gegen die neue Regelung gehabt und die Vorgabe der ÖVP-FPÖ-Regierung – so wie sechs weitere Bundesländer – ohnehin verweigert.

Nur Ober- und Niederösterreich haben die neue einheitliche Sozialhilfe, wie von Türkis-Blau gewünscht, bereits so umgesetzt, dass sie mit 1. Jänner 2020 in Kraft treten könnte. Niederösterreich will abwarten, was die neue Regierung vorlegt, auch Oberösterreich sieht den Bund in der Pflicht zur Gesetzesreparatur.

Mit dem VfGH-Erkenntnis werden also die türkis-grünen Verhandlungen neu befeuert. ÖVP-Chef Kurz betonte immer, an dem türkis-blauen Prestigeprojekt, mit dem man auch "Zuwanderung ins Sozialsystem" verhindern wollte, festhalten zu wollen. Hebeins ÖVP-Gegenüber August Wöginger konnte das Erkenntnis denn auch "absolut nicht nachvollziehen".

Die Grünen sehr wohl, sie sprachen von einem "guten Tag für die ärmsten Kinder in Österreich". Parteichef Werner Kogler hatte wiederholt darauf gepocht, Kinderarmut bekämpfen zu wollen. Die Neos hoffen auf eine durchdachte Reform der sozialen Absicherung mit mehr Treffsicherheit.

Und die FPÖ? Sieht schwarz. Oder genauer: schwarz-grün. Klubchef Herbert Kickl meinte nämlich, die Höchstrichter "setzen ihre Segel ganz offensichtlich für die sich abzeichnende schwarz-grüne Regierung (Lisa Nimmervoll, 17.12.2019)