Es gibt verschiedene Schlangen am Black Friday vor Weihnachten. Eine davon wälzt sich vor dem Zara-Flagship-Store am Wiener Stephansplatz. Ihr Kopf drückt schon morgens ungeduldig gegen die Tür. Eine andere drängelt sich ein paar Gassen weiter im altehrwürdigen, steinernen Flur des Franziskanerklosters am gleichnamigen Platz Nr. 4. Diese Schlange wartet hier jeden Freitag.

Bis zu 180 Suppen werden jeden Freitag im Speisesaal des Wiener Franziskanerklosters an Bedürftige ausgegeben. Gegen Monatsende steigt die Zahl.
Fotos: Heribert Corn

Am Eingang zur Pforte wölben sich die Steinplatten nach unten, als wäre über Jahrhunderte das Wasser eines Bächleins darübergeplätschert. Es war kein Wasser, das den Stein schliff, sondern unzählige Schritte von Mönchen, Brautpaaren, Trauergesellschaften und Obdachlosen, die hier seit bald 400 Jahren ein- und ausgehen.

Obdachlose und andere Bedürftige sind es auch, die an diesem Freitag in einer ganzen Schar ungeduldig grummeln und brummeln, ehe sich für die wöchentliche Suppenausgabe die Türen zum Refektorium öffnen. So nennt sich der Speisesaal eines Klosters. Jener der Franziskaner ist so alt wie das Kloster selbst. Über den dunklen Holzbänken an den Längsseiten des Saales hängen Bilder von Franziskanermönchen aus der Barockzeit. Brüder im Geistlichen, die bereits Zeugen der hier stattfindenden Mahlzeiten waren, als Mozart, Haydn und Co über den Platz vor der Kirche spazierten.

Bis zu 180 Menschen kommen zur Suppenausgabe. Vor allem gegen Monatsende steigt die Zahl. An den anderen Wochentagen werden von neun bis elf Uhr Brotjausen an der Pforte ausgegeben. "90 Prozent der Bedürftigen sind Männer", erzählt Pater Felix Gradl, der Guardian, also der Oberste des Klosters, und einer von elf hier ansässigen Mönchen. Ursprünglich war das Kloster, in dessen Kirche die älteste Orgel Wiens aus dem Jahre 1642 untergebracht ist, für 200 Mönche gedacht.

Brösln und Romane

Gekocht wird die Suppe, an diesem Tag steht eine Gemüsesuppe mit Nudeln auf dem Speiseplan, schon frühmorgens. Ausgegeben wird sie von 14 ehrenamtlichen Helfern, darunter finden sich ein Art-Director ebenso wie eine Ärztin oder ein Professor. Chefin dieser Truppe ist die ehemalige Lehrerin Yvonne Matula, deren Regiment, wenn es sein muss, schon auch einmal strenger geführt wird. "Vor allem nach der Ostöffnung gab es hier Brösln. Eine Zeit lang war sogar Polizei anwesend.

Gegen Monatsende steigt die Zahl derer, die sich um Suppe anstellen.
Fotos: Heribert Corn

Doch das ist jetzt vorbei. Ach wissen Sie, ich könnte ganze Romane über diese Arbeit hier schreiben", erzählt Matula, deren Mann ebenfalls mit der Schöpfkelle im Einsatz ist. Steht der große Topf einmal im Refektorium, entspannt sich die Atmosphäre, das Gegrummel wird stiller, die Menschen stellen sich mehr oder weniger brav an und verschwinden allein oder in Grüppchen an den Bänken und Tafeln. Die Bilder, die sich einem aufdrängen, reichen von einem durch die Zeit gereisten Wirtshaus bis hin zu Szenen aus Der Name der Rose.

Manche schaufeln die Suppe in sich hinein, andere schlürfen langsam und bedächtig. Die einen plaudern mit ihrem Gegenüber, manche meiden das Gespräch und erwecken den Eindruck, als wollten sie so unsichtbar sein wie ihr Platz in der Gesellschaft. Die Gesichter erzählen viele Geschichten: Geschichten von Verzweiflung, Angst, Resignation und Misstrauen. Einige Augen blicken ins Leere. Narrenkastl wäre zu lieblich.

Aber auch Dankbarkeit und Freude lassen sich sehen und spüren. Eine Momentaufnahme aus dem Leben dieser Menschen wird sichtbar, ein Jetzt, auch wenn dieses Jetzt nur eine Suppe lang dauert, ehe draußen wieder die gewisse Ungewissheit wartet.

Neben der Mahlzeit ist es auch die Wärme, die die Menschen ins Refektorium führt.
Fotos: Heribert Corn

Die Gründe, warum diese Menschen hierherkommen, sind mannigfaltig, berichtet Yvonne Matula, die diesen Leuten gut 1.000 Arbeitsstunden pro Jahr schenkt und ihnen ein Ohr leiht. Manchmal auch beide. "Viele haben den Job verloren, andere ihre Ehe. Manche wurden zu Trinkern, für viele reicht die Pension nicht aus. Es gibt auch psychisch Kranke, und nicht wenige kommen aus Ländern des ehemaligen Ostblocks. Viele sind Stammgäste", sagt sie, während die ersten ihrer Schützlinge Heferln und leergelöffelte Teller zurückstellen, brav wie die Schüler eines Internats.

Betteln für Porto

Neben der Mahlzeit ist die Wärme der Grund, warum jener Mann hierherkommt, der mausallein auf einer Bank sitzt. Seinen Namen möchte er nicht nennen. Die Sucht nach dem Spiel mit Automaten hat ihn in diese Lage gebracht. In ein Obdachlosenheim will er nicht. Nie mehr! "Ich schlafe lieber im Park.

Da habe ich meine Ruhe vor den ständigen Wickln. Ich sag aber nicht in welchem Park, denn dort draußen herrschen andere Regeln", erzählt er unter dem Gemälde eines ziemlich alten Franziskaners, der Alex einen langen, gütigen Blick zuwirft. Seinen Tag verbringt der Mann in der Lederjacke mit Zeitunglesen, dem Lösen von Rätseln, Spazieren und dem Herumfahren in irgendeinem Bus. Auf die Frage, ob er traurig sei, lächelt er freundlich und drückt einem die Hand. Sein Händedruck ist bestimmt.

Yvonne Matula organisiert und kocht als eine von 14 Ehrenamtlichen die Suppe im Franziskanerkloster, dem Pater Felix Gradl als Guardian vorsteht.
Fotos: Heribert Corn

Als er loslässt, winkt einen eine neugierig und quirlig wirkende Frau herbei. Auch sie möchte nicht mit Namen genannt werden, weil sie gerade in einem Gerichtsverfahren steckt, sagt sie. Ihr gefällt vor allem der Raum des Refektoriums, in dem auch Firmenfeiern und andere Veranstaltungen stattfinden. "Die Einrichtung ist fantastisch.

Außerdem bin ich sehr für Tier- und Naturschutz. Deshalb fühle ich mich dem Ordensgründer Franz von Assisi verbunden", sagt die Frau, die vor zwei Jahren delogiert wurde. In ihrem früheren Leben verbrachte sie viele Jahre in Frankreich und England. Ihr Tagwerk besteht heute in erster Linie aus Korrespondenz mit der Justiz. Diese dürfte umfangreich sein, denn so manche ihrer Stunden verbringt sie mit dem Sammeln von Spenden, um das Porto berappen zu können.

Zeit spenden

Allen gemein ist neben ihrer Not der Freitagvormittag bei den Franziskanern. Pater Felix und seine Mitbrüder möchten mit dieser Aktion und der wochentäglichen Jausenspende ein Zeichen setzen und niemanden "abspeisen". Schließlich sei nichts "franziskanischer" im Sinne des Franz von Assisi, erzählt der Oberhirte des Klosters zufrieden.

Sieht man den meisten Menschen ihre Bedürftigkeit an, kommen auch Menschen, die genauso gut im Café Landtmann bei Melange, Tageszeitung und Eierspeis frühstücken könnten. In der Mitte des Raumes sitzt ein Herr im feinen Lodenmantel, mit feschem Schal und Herrenhut, ein paar Meter weiter eine Frau, die auch in der Schlange bei Zara nicht auffiele. Andere wiederum hat man schon des Öfteren auf der Straße gesehen. "Theoretisch kann jeder hier landen, und das kann schnell gehen", sagt die Unternehmensberaterin Susanne Ertl, die hier seit zwei Jahren ehrenamtlich mithilft.

Im Refektorium neigt sich die Suppenausgabe dem Ende zu.
Fotos: Heribert Corn

Warum sie das tut? "Ich denke, es ist sinnvoller, Zeit zu spenden, als Geld zu geben. Außerdem ist es wunderschön, mit welcher Dankbarkeit einem der eine oder andere begegnet. Manche bedanken sich sogar mit einer herzlichen Umarmung", sagt sie und macht sich auf den Weg in die Küche. Der erste Topf ist geleert. Nachschub aus Erbsen, Nudeln, Kartoffeln und Wurst blubbert bereits. Die Spenden stammen aus verschiedenen Quellen. Yvonne Matula zählt auf: Zuckerbäckerei Jomo, die Ärztekammer, Berger Wurst, das Hotel Bristol, Ramsa Senf, das Kleine Café und andere. Es gäbe aber auch Gönner, die nicht angeführt werden möchten.

Neigt sich die Suppenausgabe gen Ende, werden hier kleine Schätze verteilt, die einen noch grübelnder machen. Bevor die Pforte des Klosters ihre "Kundschaft" wieder auf den Franziskanerplatz, auf die Straßen, in die Parks und Bushaltestellen entlässt, nehmen sich viele noch ein Sackerl mit Topfengolatschen oder Nusskipferln. Andere packen ein Einweckglas voller Suppe zu ihren Habseligkeiten, sofern sie welche haben. Auch Kleidungsstücke werden begutachtet und in Empfang genommen. "Vor allem an Herrenunterhosen mangelt es", erzählt Matula.

Fast zwangsweise fallen einem in diesem Moment die Auslagen der umliegenden Geschäfte ein, wo sich das vorweihnachtliche Konsumteufelchen die Hände reibt. Pathetisch oder nicht: An diesem Ort darf man sich angesichts der eigenen Abgebrühtheit ruhig selbst an der Nase nehmen – gerade an einem Black Friday zwischen Menschen, die diesem Begriff eine andere Bedeutung geben. (Michael Hausenblas, RONDO, 20.12.2019)