Kai Schmidt bietet Mathe-Nachhilfe auf Youtube an.

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STANDARD: Herr Schmidt, Sie sind Lehrer und bringen nebenbei mit Ihren Youtube-Videos Schülern Bruchrechnen bei. Warum tun Sie sich das an? Haben Sie ein Helfersyndrom?

Schmidt: Nein, ich habe einfach im Alltag erkannt, dass Hilfen außerhalb des Unterrichts notwendig sind. Gleichzeitig habe ich nicht die Hilfen gefunden, die ich meinen Schülern zur Verfügung stellen wollte. Ich habe sie dann halt selbst gemacht.

In seinen Videos auf dem Kanal "Lehrerschmidt" löst Kai Schmidt Rechenaufgaben.
Lehrerschmidt

STANDARD: Sie haben heute 353.000 Youtube-Abonnenten. Wie baut man im Netz einen Draht zu seiner Zielgruppe auf?

Schmidt: Das habe ich lange mit meiner Frau, die auch Lehrerin ist, diskutiert. Ursprünglich wollte ich in den Videos nicht zu sehen sein: Man könnte meinen, dass es in einem Mathevideo ausreicht, dass man Zahlen sieht und wie man zum Ergebnis kommt. In den vergangenen fünf Jahren habe ich gelernt, dass genau das nicht ausreicht. Man will wissen, wer hinter den Videos steckt. Seit zweieinhalb Jahren sieht man mich jetzt in den Videos. Seitdem ich sichtbar bin, hat sich die Zugriffsrate deutlich erhöht.

STANDARD: Sie sind nun seit fünf Jahren auf Youtube. Wie haben sich Ihre Videos verändert?

Schmidt: Aus Zeitnot habe ich mich zunehmend professionalisiert. Weil mir die Vorbereitungszeit fehlt, entstehen die Videos immer parallel zum Unterricht. In Wirklichkeit sind die Videos Abfall aus meiner Unterrichtsvorbereitung. Anders geht’s nicht. Ich bin Schulleiter, Lehrer, habe Familie. Ich schaue mir an: Was unterrichte ich morgen? Genau das Thema bringe ich am nächsten Tag auf meinem Kanal.

STANDARD: Was machen Sie in Ihren Youtube-Videos anders als im Klassenzimmer?

Schmidt: Gar nichts, in den Videos erkläre ich die Aufgaben genauso wie im Unterricht. Ich glaube, dass das auch das Erfolgsgeheimnis der Videos ist. Ich weiß durch viele Jahre Erfahrung als Lehrer, dass genau diese Art des Erklärens und diese Wortwahl funktionieren. Ursprünglich habe ich die Videos ja für meine Schüler gedreht, die wussten dann: Aha, der Schmidt erklärt das noch einmal genau so, wie er das in der Schule getan hat.

STANDARD: Wie erklärt man verständlich?

Schmidt: Erst einmal muss ich wissen, wer da vor mir sitzt. Es hilft auch, wenn man sich in die Zielgruppe versetzen kann. Da ich seit vielen Jahren an einer Hauptschule arbeite, habe ich eine Vorstellung davon, wo die Probleme liegen.

STANDARD: Welche Vorteile haben Lernvideos auf Youtube gegenüber Nachhilfestunden?

Schmidt: Ich wollte ein kostenfreies Angebot zur Verfügung stellen. An Hauptschulen spielt in den Elternhäusern das Thema Geld eine große Rolle. Viele können sich keinen Nachhilfelehrer leisten.

STANDARD: Macht ein guter Lehrer Nachhilfe überflüssig?

Schmidt: Auf keinen Fall. Ein guter Lehrer hat verstanden, dass Wissensvermittlung nur funktioniert, wenn die Beziehungsebene passt. Erst muss ich die Kinder begeistern, und dann kann ich Mathe machen. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn ich die Kinder hinsichtlich ihrer Leistung nicht mehr als homogene Gruppe wahrnehme, dann ist klar, dass ein Teil der Gruppe zusätzlich Unterstützung braucht. Wenn für einen Teil dieser Gruppe diese Unterstützung ein Lernvideo sein kann, haben wir alle gewonnen.

STANDARD: Was kann ein Erklärvideo auf Youtube nicht leisten?

Schmidt: Ein Video kann nur selten auf eine genaue Problemstellung reagieren. Es funktioniert eher wie ein interaktives Lehrbuch. Die Vorteile sind: Es lässt sich zurückspulen, man kann Videos zu ähnlichen Problemen aus der Playlist raussuchen und mit Verlinkungen arbeiten.

STANDARD: Warum gilt Mathe als Problemfach?

Schmidt: Mathe hat ein schlechtes Image. Ich ärgere mich immer ein bisschen drüber, dass es im deutschsprachigen Raum irgendwie als cool gilt, zu sagen, dass man Mathe nicht kann. Oft kokettieren Geisteswissenschafter damit, dass sie schlecht in Mathe waren. Das ist schade, weil es ein tolles Fach ist. Im Gegensatz zu Sprachen kann man in Mathe auch Defizite relativ schnell aufarbeiten.

STANDARD: Woran hapert es in Mathe am meisten?

Schmidt: Es scheitert oft an den Basics. An plus, minus, mal, geteilt schriftlich, an den Kommastellen natürlich, die Bruchrechnung ist eine Riesenbaustelle. Wenn ich nicht weiß, was ein Bruch ist, kann ich auch keine Brüche addieren, subtrahieren oder multiplizieren.

STANDARD: Haben Sie eine Ahnung, wer Ihre Videos anschaut?

Schmidt: Das weiß ich sehr genau: Das sind zu einem Drittel Schüler und zu zwei Dritteln Erwachsene über 25.

STANDARD: Warum sehen sich Erwachsene Ihre Videos an?

Schmidt: Diese Statistik ist die ehrlichste Antwort darauf, dass es an der Schule ein Problem gibt. Die Mamis der Grundschüler lassen sich noch mal erklären, wie’s geht, damit das Töchterchen und das Söhnchen dann Hilfe von Mami selbst bekommen. Ich nehme sehr häufig in den Kommentaren wahr, dass die Eltern zwischengeschaltet sind.

STANDARD: Sie lösen in Ihren Videos längst nicht mehr nur Matheaufgaben, Sie denken jetzt auch über Schulfragen nach. Wird man als Mathe-Influencer eitel?

Schmidt: Ich würde mich niemals schminken, extra umziehen oder rasieren. (lacht) Die Themen, die ich in diesen Videos anspreche, werden meist gerade in der Schülerschaft diskutiert. Mein erstes Themenvideo hat sich um die Frage gedreht: "Wie funktioniert ein Elternabend?" Hintergrund zu dem Video war, dass ich als Hauptschullehrer wenig Elternbesuch habe. Ich wollte den Eltern die Angst nehmen, dass der Lehrer beim Elternabend mit ihnen motzt, weil der Sohn keine Hausaufgaben macht. Das Video hatte zur Folge, dass ich mehr Eltern da sitzen hatte.

STANDARD: Die Eltern Ihrer Schüler schauen die Videos also auch?

Schmidt: Ein bestimmter Prozentsatz der Schulelternschaft schaut sich die Videos an. Ich möchte die Blackbox Schule auflösen und Außenstehenden erklären, was in einer Klassen- oder einer Zeugniskonferenz passiert.

STANDARD: Haben Ihre Erfahrungen auf Youtube Ihren Schulunterricht verändert?

Schmidt: Es gibt in jedem Fall eine positive Rückkopplung. Wenn unter einem Youtube-Video immer wieder ähnliche Fragen auftauchen, dann drehe ich das Video neu, nehme es mit in den Unterricht und frage meine Schüler, ob diese und jene Frage jetzt beantwortet wird.

STANDARD: Sie verdienen heute Geld mit Ihren Youtube-Videos. Schon mal dran gedacht, den Job als Schulleiter hinzuwerfen?

Schmidt: Niemals. Es steht außer Frage, dass ich diesen Job den Rest meines Lebens machen werde. Mein Nebenjob nimmt realistischerweise ungefähr zwei Stunden pro Woche ein. Ein Trick besteht darin, dass ich in den Ferien eine ganze Themeneinheit vorproduziere.

STANDARD: Wie erklären Sie sich Ihre stetig wachsenden Abonnement-Zahlen? Was tun Sie dafür?

Schmidt: Gar nichts, ich achte darauf, dass ich zwei bis drei Videos pro Woche veröffentliche. Dahinter steckt kein Plan, den gibt der Lehrplan des jeweiligen Schuljahres vor. Im Moment liegt der Schwerpunkt auf Statistik. Meine nächsten Videos drehen sich um Diagramme, um Boxplot und Potenzen.

STANDARD: Sie unterrichten in Niedersachsen. Haben Sie auch Zugriffe aus Österreich?

Schmidt: Sechs Prozent meiner Zuschauer kommen aus Österreich. Gestern hatte ich 241.000 Zuschauer, das waren dann also rund 15.000 aus Österreich.

Lehrerschmidt

STANDARD: Youtube ist eine kommerzielle Plattform, je öfter Ihre Videos geklickt werden, desto mehr verdienen Sie. Haben Ihre Kollegen oder Ihr Vorgesetzter ein Problem damit?

Schmidt: Vor fünf Jahren, damals war Youtube vor allem für Katzenvideos bekannt, habe ich viel Häme kassiert. Heute jucken die Videos an meiner Schule keinen mehr. Und wie es sich für einen Beamten gehört, habe ich meine Tätigkeit natürlich ordnungsgemäß angemeldet.

STANDARD: Sie sind ja nicht der einzige Mathe-Youtuber. Beobachten Sie die Konkurrenz?

Schmidt: Selbstverständlich, wir Mathefuzzis kennen uns ganz gut. Wir tauschen uns regelmäßig aus, haben uns sogar schon getroffen. Ich empfinde niemanden als Konkurrenz: Wenn jemand mit Lehrer Schmidt nichts anfangen kann, ist es doch ganz normal, dass er sich dann jemand anderen sucht. Ich gönne den anderen jeden Klick.

STANDARD: Was haben Sie in den vergangenen Jahren von den Schülern auf Youtube gelernt?

Schmidt: Eine Menge. Ich bin in Sachen Jugendsprache bestens informiert. Wenn Trendwörter wie der "Ehrenmann" umgehen, dann weiß ich das dank der Kommentarspalte schon drei Monate vorher. Mit einer Zuspruch-Rate von 97,3 Prozent zählt "Lehrerschmidt" im deutschsprachigen Raum zu den Kanälen, die eine sehr gute Bewertung haben. Da freu ich mich natürlich drüber.

STANDARD: Sind Sie verführt, sich der Sprache der Jugendlichen anzupassen?

Schmidt: Hoffentlich nicht. Ich versuche, mit ganz normaler Sprache Mathe zu vermitteln. Es wäre ja lächerlich, wenn ich plötzlich das "fesche Geodreieck" raushole. Mathe muss auch nicht cool sein.

STANDARD: Hätten Sie als Schüler Youtube-Lernvideos geschaut?

Schmidt: Na klar. Mathe wäre bei mir nicht notwendig gewesen, aber Chemie auf jeden Fall.

(Anne Feldkamp, RONDO, 10.1.2020)