Dazu braucht es statt der üblichen Verhandlungen einen Perspektivenwechsel, so der Bildungsexperte Andreas Salcher im Gastkommentar.

Zwei Pisa-würdige Fragen sollten sich die türkis-grünen Verhandler zur Zukunft unseres Schulsystems stellen: Wie lange leisten wir uns noch das zweitteuerste Schulsystem der Welt, das nach neun Jahren jeden fünften Absolventen ohne zumindest die Fähigkeit des sinnerfassenden Lesens ins Leben wirft? Warum schaffen es Länder wie Kanada, Finnland, Estland oder Irland mit deutlich weniger Aufwand, ihren Schülern wesentlich bessere Lebenschancen zu ermöglichen?

Allen Pisa-Skeptikern sei gesagt, dass auch unsere nationalen Bildungsstandards das Versagen unseres Schulsystems dokumentieren. Trotz aller teuren Maßnahmen wie der generellen Senkung der Klassenschülerhöchstzahlen, der Einführung der Neuen Mittelschule, der Schulautonomie, den Bildungsstandards oder der Zentralmatura schafft es unser Schulsystem nach wie vor nicht, allen Schülern zumindest Lesen, Schreiben und die Grundrechnungsarten zu vermitteln. Gleichzeitig ist der Anteil der Spitzenschüler niedrig.

Die Suche nach dem Warum

Eine intelligente Schulreform beginnt nicht mit der Jagd nach Schuldigen, sondern mit der Suche nach dem Warum. Daher braucht Österreich einen nationalen Dialog über die relevanten Fragen unseres Schulsystems. Dazu sollten alle Fakten (Rechnungshof, OECD-Studien, Pisa inklusive Detailanalysen, Bildungsstandards et cetera) transparent kommuniziert und mit folgenden Grundsatzfragen verbunden werden:

Welche Kompetenzen brauchen unsere Kinder, um im 21. Jahrhundert ein selbstbestimmtes Leben führen zu können? Welchen pädagogischen Prinzipien müssen Schulen folgen, um diese Fähigkeiten vermitteln zu können? Wie sollten die finanziellen und personellen Ressourcen in Zukunft verteilt werden, um Lernfreude, Lebenschancen und Leistungsorientierung deutlich zu steigern?

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Der Lehrerberuf muss aufgewertet werden.
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Keine Ideologiediskussionen

Statt den üblichen endlosen Verhandlungen der Regierung mit den Ländern und Lehrergewerkschaften könnten erstmals alle Schüler, Lehrer, Eltern, Direktoren sowie Wissenschafter, Medien und an Bildung interessierte Menschen an diesem Dialog teilnehmen. Dieser sollte ergebnisoffen geführt werden und am Ende klare Ziele formulieren. Nur wenn alle Interessengruppen ihre "Bauchnabelperspektive" erweitern, kann es gelingen, endlich die drei großen Tabus anzugreifen.

· Massive Investitionen in die Kindergärten
Wenn wir einen nationalen Konsens darüber erreichen, die besten Kindergärten zu schaffen, so hätten wir mit ziemlicher Sicherheit in zehn Jahren eines der besten Schulsysteme der Welt. Es gibt keine andere Maßnahme, die mit einem vergleichsweise geringen Aufwand einen derart positiven Effekt auf unser Bildungssystem hätte. Die Bildungsforscher sind sich einig darin, dass die Investition in kompetente frühkindliche Pädagogik jene Maßnahme ist, die den maximalen langfristigen Bildungsnutzen bringt.

· Ein modernes, attraktives Berufsbild für alle Lehrenden
Im Kern kommen die Vergleichsstudien über Bildungssysteme zu einer übereinstimmenden Grundaussage: Es sind die Lehrer, die die Qualität eines Bildungssystems ausmachen. Ein Schulsystem kann nicht besser sein als die Summe seiner Lehrer. Gelingt es einem Land, den Lehrerberuf zu einem der drei attraktivsten Berufe für Studenten zu machen, dann die besten auszuwählen, diese praxisnah aus- und weiterzubilden und sie dabei zu unterstützen, damit sie den bestmöglichen Unterricht leisten können, so werden die Schulen dieses Landes Weltklasse sein. Wir brauchen ein neues Lehrerbild, das dem 21. Jahrhundert entspricht, mit einem fairen Jahresarbeitszeitmodell, mit modernen Arbeitsplätzen und einem Mittelmanagement, das besonders engagierten Lehrern Aufstiegsmöglichkeiten bietet.

· Die flächendeckende Einführung der echten Ganztagsschule
Fast alle guten Schulen auf der Welt sind Ganztagsschulen. Das trifft auf die teuersten Privatschulen genauso zu wie auf soziale Brennpunktschulen. Die Vorteile sind eindeutig: Die Zeiteinteilung zwischen Lehrvortrag, Projektunterricht, Exkursionen, selbstbestimmtem Lernen sowie Erholungs-, Essens- und Reflexionszeiten wird vom Lehrerteam in Absprache mit dem Direktor autonom festgelegt. Dadurch wird ein individuelles Eingehen auf jeden einzelnen Schüler strukturell überhaupt erst möglich.

Statt sich in endlosen Struktur- und Ideologiediskussionen zu verlieren, sollten die türkis-grünen Entscheidungsträger ihre Energien auf eine vernachlässigte Frage konzentrieren: Wie schaffen wir Schulen, die Schüler und Lehrer so inspirieren, dass sie jeden Tag gern hingehen? Eine Idee für diese pädagogische Neuausrichtung wäre, Schulen zu ermächtigen, zehn Prozent der gesamten bisherigen Unterrichtszeit an Personen wie Schriftsteller, Tänzer, Regisseure, Gärtner, Handwerker, Jungunternehmer, Architekten, Entwicklungshelfer, Erfinder oder Sportler zu vergeben, die dann eigenständig mit den Schülern lebensnahe Projekte umsetzen. Schulen würden so zu ganztägig geöffneten Orten des gemeinsamen Lernens. (Andreas Salcher, 18.12.2019)